Stille Kämpferin
Sie kommt auf die Bühne gefedert, elegant, beschwingt und turbodynamisch. Das Bein saust hoch, der Spitzenschuh verlängert den gewölbten Fußspann scheinbar ins Unendliche. Ein verschmitztes Lächeln blitzt über ihr Gesicht, während das Tutu um die Taille herum auf und nieder hüpft, von zackigen Sprüngen hochgepeitscht.
Zugetragen hat sich der Auftritt im vergangenen Winter, Schauplatz war Berlins Deutsche Oper, und fürs Arrangement zeichnete kein Geringerer als die Choreografen-Legende William Forsythe verantwortlich: «Blake Works I», ursprünglich für das Ballett der Pariser Oper entworfen, erwies sich als Offenbarung – in mehr als einer Hinsicht. De facto wurde der Abend zu einer auf leisen Sohlen und hoher Spitze angezettelten Revolution: Leroy Mokgatle, vor 24 Jahren als Junge in Südafrika geboren, überzeugte als eine der tollsten Ballerinen, die je in der Hauptstadt zu sehen waren.
Pirouetten in Serie
Das finden auch die Kolleginnen, die mit Leroy Mokgatle trainieren. Ein paar Flurplaudereien im Ballett-Trakt, hoch oben unterm Operndach, und man weiß Bescheid: «Makellose Technik, wundervoller Mensch», lautet das einhellige Urteil. Nicht das leiseste Konkurrenzgefühl? Energisch werden die Köpfe geschüttelt. Die gleiche Reaktion kommt eine halbe Stunde später auch im Gespräch mit Leroy Mokgatle. Obwohl direkt von der Probe herbeigeeilt, wirkt sie weder gestresst noch angespannt. Schwarzes Tuch um den Kopf, diskrete Ohrstecker, umwerfendes Lachen und munter erzählende Mimik, sogleich die Versicherung auf den Lippen: «Ich bin den Tänzerinnen unendlich dankbar, weil sie mir Mut machen und meine Selbstzweifel zerstreuen.» Ängste, die Mokgatles Auftritte nicht mal im Ansatz erkennen lassen. Wenn die seit der laufenden Saison zur Halbsolistin promovierte Tänzerin in Forsythes «Blake Works I» Pirouetten in Serie dreht oder für Christian Spucks «Bovary» als Gesellschaftsdame promeniert, recken sich alle Hälse im Publikum: Soviel Ausstrahlung, Esprit und Können stimmt selbst skeptische Traditionsadvokat*innen milde, die verflüssigte Geschlechtergrenzen und Übertritte von einer zur anderen Gender-Fraktion für einen Angriff auf den Markenkern des Balletts halten.
In der Tat rüttelt der Auftritt nonbinärer Tänzer*innen am Fundament einer Kunst, die traditionell auf dem Prinzip der Polarität beruhte: hier Weiblein, da Männlein. Es sei denn, es ging um Travestierollen oder einschlägige Shows der gehobenen Klasse. Seit einem halben Jahrhundert touren etwa die Jungs von den Ballets Trockadero de Monte-Carlo durch die Welt, um klassische Damen-Nummern aus «Schwanensee» oder «Don Quixote» vorzuführen. Nichts für trans Tänzerinnen, die ihr Bühnendasein nicht mit Juxmacherei verbringen wollen. Für Künstlerinnen wie Leroy Mokgatle, die gleich zu Beginn des Gesprächs Klarheit schafft: «Ich bin genderfluid, bevorzuge aber das weibliche Pronomen.»
Ballett, ein Zufallsfund
Vor etwa zehn Jahren begann die bis dahin betonfeste Geschlechterfassade im klassischen Tanz zu bröckeln. Ballettdirektor*innen weltweit sahen sich vor neue Herausforderungen gestellt, denen die meisten mit schulterzuckender Ignoranz begegneten. Toleranz übte zuerst Tamara Rojo, seinerzeit Chefin des English National Ballet in London, die 2017 Chase Johnsey als Teil des weiblichen Corps de ballet engagierte. Es blieb allerdings bei einer Inszenierung, danach verschwand Johnsey in der Versenkung. Trotzdem war der Weg geebnet und im Lauf der Jahre wuchsen mit Ashton Edwards oder Maxfield Haynes Talente heran, die vor allem die US-Szene aufmischen. In Europa machen neben Mokgatle derzeit vor allem Naomi Brito beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und Max Richter am Ballett Zürich von sich reden. Aber selbst Häuser wie Kaiserslautern haben nonbinäre Tänzer*innen verpflichtet. Wobei der Wechsel ins weiblich etikettierte Fach bislang das Geschehen zu dominieren scheint – die Richtung, die auch Leroy Mokgatle eingeschlagen hat.
Was viel Mut erfordert hat, weil dunklere Hautfarbe und Ballettkarriere in Leroys frühen Teenie-Jahren als unvereinbar galten. Die Tänzerin stammt aus einer eher konservativen Familie, der sie nacheinander beibiegen musste: «Ich bin schwul, ich will tanzen, und außerdem bin ich nonbinär». Die Verwandtschaft reagierte verschnupft bis irritiert. Der Vater war schon bei der Geburt von der Bildfläche verschwunden, die Mutter starb, als das Kind gerade zur Schule gekommen war. Also nahmen sich die Großeltern seiner an, was auch den Umzug aus der Provinz nach Pretoria mit sich brachte.
Zum Ballett kam Leroy Mokgatle rein zufällig: «Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als die Frage der Nachmittagsgestaltung auftauchte. Ich ging schwimmen, das war ganz nett, wurde mir aber bald zu langweilig. Der Pool lag in der Nähe einer Schulsporthalle, wo Mädchen Ballett trainierten. Ich war sofort Feuer und Flamme.» Ziemlich früh steigt Leroy in den Spitzenschuh, wird als Talent erkannt und stufenweise an die jeweils nächsthöhere Akademie weitervermittelt. Offiziell steht (damals noch) ihm nur das Herrenrepertoire offen, aber die androgyne Doppelbegabung lässt sich kaum leugnen.
Weg in die Freiheit
In den Tiefen des Netzes findet sich ein Clip, der Leroy Mokgatle 2016 beim «Prix de Lausanne» zeigt – noch vor dem Sieg: Auftritt eines Jugendlichen, der auf den Spuren von Macho-Held Anthony Quinn alias Alexis Sorbas einen mannhaft getönten Sirtaki tanzt und keinen Wimpernschlag aus dem Rahmen des mediterranen Halbstarken fällt. Heute, keine zehn Jahre später, ist Leroy Mokgatle zur strahlenden Forsythe-Ballerina, zum Winzermädchen in «Giselle», zur «Fee der Klugheit» in Marcia Haydées «Dornröschen» gereift – dank ihrer hinreißenden Fähigkeit, sich mit dem Gegenüber zu verbinden und gleichzeitig ganz bei sich selbst zu bleiben, in den Umrissen der eigenen Persönlichkeit. Selbst ein Mini-Auftritt wie der in Christian Spucks «Nocturne» an der Seite von Jan Casier gerät auf diese Weise zur bestaunten Vignette: ein Pas de deux, lyrisch wie ein Liebesgedicht und elegisch wie ein Epitaph.
Leroy Mokgatles Tanz weht sinnlich wie ein Unisex-Parfum ins Parkett und bringt Polaritäten zum Verschwinden – durch Auflösung, Versöhnung, Verschmelzung. Das hebt ihre Bühnenerscheinung heraus, eine Verwandlung, die Körpergrenzen überwindet. Wie fühlt sich das an? Mokgatle beschreibt plastisch das doppelgesichtige Traditionsrepertoire: «Tanze ich männliche Partien, fühlt es sich an, als sei die Figur hinter Milchglas. Ich kann ihre Umrisse erkennen, aber nicht die Person. Tanze ich weibliche Rollen, entriegelt sich innerlich die Tür und ich lande im Freien.» Der Weg in die Freiheit vollzog sich etappenweise und offenbar relativ konfliktfrei: «Ich bin eine stille Kämpferin», sagt die Mittzwanzigerin, «aber dafür umso beharrlicher». Sie gewinnt den «Prix de Lausanne», bleibt in Europa, heuert an beim modern getunten Béjart Ballet in Lausanne. Und wieder eilt der Zufall zu Hilfe: «Eine Tänzerin fiel aus und ich sprang ein.» Wenig später steht sie – offiziell noch als Mann – im Spitzenschuh auf der Bühne. Ein Durchbruch, künstlerisch wie karrieretechnisch.
Veränderung und Verunsicherung
Von Béjart wechselt Leroy Mokgatle 2022 zum Ballett Zürich, um dem Direktor Christian Spuck nur ein Jahr später ans Staatsballett Berlin zu folgen. Sie kann sich kein anderes Leben mehr vorstellen, genießt die Stadt, schließt Freundschaft mit den Kolleg*innen und verbringt die spärliche Freizeit damit, ihre Spitzenschuhe zu präparieren wie jede andere Ballerina auch: «Fesselbänder annähen, Sohle weich klopfen – die üblichen Prozeduren.» Nur am Rand lässt Leroy Mokgatle durchblicken, wie strapaziös die letzten Jahre waren, für Körper, Geist und Seele. Die Veränderung im eigenen Fühlen, Denken und Tanzen wahrzunehmen, bedeutet Verunsicherung. Beim Staatsballett fühlt sie sich gut aufgehoben und unterstützt – «egal, wohin der Übergang führt». Schließlich ist alles im Prozess, nichts auf ewige Dauer angelegt. Und vieles eine Frage der Tagesbefindlichkeit: «Man muss sich nicht partout festlegen, Identität hat doch zahllose Gesichter.» Leroy Mokgatle weiß, wovon sie spricht – und lebt nach dieser Maxime. Dafür zählt @leroy_mx auf Insta inzwischen fast 34 000 Follower.
Anderswo noch mal neu ansetzen? Derzeit nicht vorstellbar. Das Staatsballett bietet diversitätsgerechte Trainings- und Besetzungsbedingungen, offenkundig mehr als andere Häuser. Bevor Routine Einzug hält, sorgt Leroy Mokgatle sowieso selbst für Abwechslung. Beispielsweise per Umzug – gerade erst vom gutbürgerlichen Charlottenburg ins abwechslungsreichere Schöneberg. Der Tänzerin schwebt vor, jedes Jahr einen anderen Berliner Kiez kennenzulernen. Passt perfekt zur kontinuierlichen Erweiterung ihres Profils, die nichts anderes ist als: Pionierarbeit im Spitzenschuh.
Zu sehen als Puck in Edward Clugs neuem «Sommernachtstraum» ab 21. Febr. in Forsythes «Approximate Sonata 2016» am 27. Febr., 2., 10. April; www.staatsballett-berlin.de

Tanz Februar 2025
Rubrik: Menschen, Seite 24
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