Marco Goecke, Goyo Montero «Strawinsky»
Der 13. Dezember 2024 wird als historisches Datum in die Annalen Nürnbergs eingehen. Auf dem Reichsparteitagsgelände im Südosten der Stadt trafen sich eine Handvoll «Großkopferter» (bayerisch für jede Art von Honoratior*innen), um den ersten Spatenstich für das Interimsquartier der Nürnberger Oper zu tätigen. Musiktheater und Ballett ziehen voraussichtlich ab 2028 in einen Neubau, angedockt ans sogenannte Kolosseum – monumentale Nazi-Ruine, die mit der Opernnutzung einem sinnvollen Betriebszweck zugeführt werden soll.
Allerdings mustert Nürnbergs derzeitiger Ballettdirektor Goyo Montero noch vor dem Umzug ab: Ende der Saison wechselt er auf den Chefsessel in Hannover, dessen Ex-Direktor Marco Goecke wiederum in Basel anheuert. Am Tag nach dem Spatenstich bestreiten die beiden Choreografen auf der Bühne des sanierungsbedürftigen Opernhauses einen zweiteiligen Abend: «Strawinsky» montiert Goeckes «Scènes de ballet» und Monteros «Feuervogel» hintereinander – ein großartiges Diptychon, das Vergangenes an die Gegenwart koppelt.
Aus der Dunkelheit schält sich ein Mann, nackter Oberkörper, dunkle Hose. Hinter ihm gähnt ein anthrazitgrauer Schlund, Lichtblitze zischen vorbei, Donnergrollen fegt die Stille hinweg. Keine Naturkulisse, sondern Mündungsfeuer und Kanonenschüsse – Signale eines Gefechts, die aus dem Nirgendwo eines imaginären Schlachtfelds herüberwehen. In der Tiefe des Orchestergrabens lauscht ihnen auch die Staatsphilharmonie Nürnberg, bevor Dirigent Roland Böer den Taktstock hebt und die knappe «Introduction» erklingt, Auftakt einer fabelhaft musizierten Viertelstunde.
Igor Strawinsky schrieb seine ultrakurzen «Scènes de ballet» 1944 im Auftrag eines Broadway-Tycoons, der sie als Show Act herausbrachte. Nichts Sensationelles, aber probate Ablenkung in Zeiten des Krieges. Vier Tage nach der deutschen Kapitulation verschwindet die ganze Produktion vom Spielplan, auch «Scènes de ballet» wird danach nur selten – etwa von Frederick Ashton, Uwe Scholz oder Christopher Wheeldon – aus dem Depot gezogen. Goecke aber gewinnt diesem Divertissement ein Dutzend Menschheitsepisoden ab: pure Evolution, reine Essenz. Manisch treiben Paare erst aufeinander zu, dann brachial auseinander. Mit nähnadelscharfen Schritten eilen sie herein, schieben sich spreizbeinig ins Blickfeld, nur um ein paar Umarmungen später wieder im lichtlosen Abseits zu versinken. Meisterlich legt Goecke zudem das martialische Unterfutter der Komposition frei. Statt muntere Notenläufe mit filigranen Sprüngen zu illustrieren, kreiseln die Tänzer wie irrwitzige Geschosse um die eigene Achse. Es droht: die totale Auslöschung. Auch das zeigt Goecke: ein Flüstern, ein Schuss, ein fallender Körper. Die Welt steht still. Der Vorhang fällt.
Goyo Monteros «Feuervogel» spinnt den Faden dieser Apokalypse fort. Seine 2023 mit den Ballets de Monte-Carlo uraufgeführte Choreografie überschreibt das märchenhafte Original mit einer Sci-Fi-Story: Hier namenloses «Volk», da kolonialer «Forscher»-Tross, angeführt von Königin und Wissenschaftsguru. Das ungleiche Paar ringt um Liebe, Macht und Magie – mit kollektiv tödlichem Ausgang. Monteros robuste bis rabiate Bewegungs-Cluster ergeben ein packendes Tableau, das jede Hoffnung erstickt. Keine Rettung in Sicht, wie sie 2019 noch seine «Sacre»-Version verhieß.

Tanz Februar 2025
Rubrik: Kalender, Seite 40
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