Runde Sache
Pressekonferenz des Staatsballetts in der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Es ist Frühjahr 2024, draußen scheint die Sonne, drinnen sitzt Staatsballett-Intendant Christian Spuck und macht ein sorgenvolles Gesicht. Dabei jagt, seit er vor einem dreiviertel Jahr sein Amt angetreten hat, eine Erfolgsmeldung die nächste. Jede Premiere der Spielzeit wurde von Publikum wie Kritik enthusiastisch gefeiert.
Sei es nun Spucks eigenes Ballett «Bovary» (für das Weronika Frodyma von den Kritiker*innen dieser Zeitschrift zur «Tänzerin des Jahres» gewählt wurde, tanz jb/24) oder Sharon Eyals «2 Chapters Love», das eigentlich nur eine Wiederaufnahme sein sollte, und sich dann, weil Eyal so inspiriert war von den Staatsballett-Tänzer*innen, zu einem völlig neuen Stück entwickelte. Und erst recht der dreiteilige «Forsythe»-Abend: Kaum freigeschaltet, schon restlos ausverkauft! Die Server zwischendurch zusammengebrochen, so groß war die Nachfrage! Natürlich blitzen Spucks Augen, als er das verkündet. Aber gleich im nächsten Moment erklärt er sehr ernst, dass so ein Erfolg etwas Heikles sei. Er müsse, so Spuck, immer wieder neu hergestellt werden – und an diesem Tag wirkt der ansonsten so optimistisch-frische und tatkräftige Intendant, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er und sein Team das schaffen werden.
Am Ende des Ganges
Jetzt, ein knappes Jahr später – in dem das Staatsballett auch zur «Kompanie des Jahres» gekürt wurde (tanz jb/24), sieht Spuck das alles ziemlich gelassen. Nach wie vor ist er der Ansicht, dass in Berlin Erfolg nicht mehr als eine Sandburg ist. Nichts, worauf man bauen kann. Zu groß die kulturelle Konkurrenz. Zu schnelllebig und in ständiger Veränderung die Stadt. Aber diese Herausforderung, sich immer wieder neu erfinden zu müssen, scheint Spuck inzwischen als sehr belebend zu empfinden. Das wird deutlich, wenn man ihm gegenübersitzt, in seinem Büro in der Deutschen Oper, ganz am Ende eines langen Ganges und danach fragt, wie sie denn für ihn gewesen sei, diese erste Zeit. Sehr herausfordernd, sagt er. Klar, er hatte bereits zehn erfolgreiche Jahre als Ballettdirektor in Zürich hinter sich. War bestens vernetzt. Hatte in Berlin schon in der Spielzeit 22/23 als Berater der Interims-Intendantin Christiane Theobald die Kompanie kennengelernt und mit der importierten «Messa da Requiem» selbst einen gewaltigen Erfolg gefeiert. «Aber», so Spuck, «beim Ballett Zürich arbeiteten insgesamt 60 Mitarbeiter*innen, in Berlin sind wir etwa 120.» In Zürich saß er mit dem Leitungsstab eng zusammen, es gab, anders als jetzt, keine langen Wege. Zudem gibt er zu bedenken: «Ich war Direktor und konnte mich mit meinen Problemen an meinen Intendanten wenden.» Jetzt ist er der Chef, hinten, am Ende des Ganges. Keine Tür mehr danach. Sein nächstes Gegenüber ist dann direkt die Politik. «Ich habe sehr viel sehr schnell lernen müssen.»
Klagend hört er sich dabei nicht an, sondern leicht amüsiert und auch ein wenig erstaunt. Erstaunt offenbar auch darüber, dass er, der schnelle Denker, nicht alle Probleme schon im Voraus erkannt hat.
Aber während es hinter den Kulissen offenbar nicht immer einfach war, hat Spucks Berufung in der Öffentlichkeit vom ersten Tag an nur eines hervorgerufen: Enthusiasmus. Vielleicht muss man sich noch einmal kurz erinnern, wie die Zustände früher waren. An die letzten Jahre des ersten Staatsballett-Intendanten Vladimir Malakhov, der zunächst buchstäblich die Karre aus dem Dreck gezogen und dem völlig ruinierten, aus drei Vorgängerkompanien zusammengelegten Staatsballett in der Stadt wieder Glamour gegeben hatte, dann aber zunehmend glücklos agierte. An die katastrophalen Folgejahre mit Nacho Duato, der vor allem seine eigenen Stücke auf den Spielplan setzte und die drei Häuser dramatisch leer spielte. An die Berufung von Sasha Waltz und Johannes Öhman, die bei den vorab nicht informierten Tänzer*innen eine Revolte hervorrief und nach nur einer, allein von Öhman bestrittenen Spielzeit, schon wieder zu Ende war. Wobei es davor ja auch schon die schrecklichen 1990er- und frühen 2000er-Jahre gab, als Berlin eben noch drei Ballettkompanien hatte – für jedes Opernhaus eins. Aber alle lagen aufgrund falscher Berufungen völlig darnieder, spielten zum Teil bei einer Auslastung von zehn Prozent. Es war gespenstisch.
Berlin, so konnte man nach dieser sehr, sehr langen Zeit glauben, ist einfach keine Ballettstadt. Jedenfalls keine, die sich für mehr als «Schwanensee», «Giselle» & Co. interessiert. Zu betonen, dass die Weichen bereits in dem kurzen Jahr von Johannes Öhman umgestellt wurden, war Spuck schon immer wichtig. Mit dessen Einladung von Sharon Eyals meisterhaftem Techno-Kunstwerk «Half Life» wurde ein völlig neues Publikum gewonnen. Dieses Publikum ist nicht nur geblieben, es ist seitdem immer größer geworden, und das rasend schnell. Schon in der Spielzeit 22/23, unter der Interimsleitung von Christiane Theobald, war das so. Und es entwickelte sich ebenso schnell weiter, zu sagenhaften 98 Prozent Auslastung in Spucks erster Spielzeit. William Forsythe prophezeite bereits im Februar 2024, dass das Berliner Staatsballett unter Spucks Leitung zu einer führenden Ballettkompanie nicht nur Deutschlands werden könnte – eben weil diese Stadt offen sei für neuen Tanz.
Hype und Vibes
Die Chancen, dass es so kommen wird, stehen gut. Spuck macht ein hervorragendes, klug zusammengestelltes Programm mit Choreografen wie Eyal und Forsythe, mit Crystal Pite und Marcos Morau, dem Hauschoreografen, von dem es in der kommenden Spielzeit endlich eine große Uraufführung geben wird. Und aktuell mit Edward Clug, der, während wir beim Intendanten sitzen, wenige Meter weiter, an einem neuen «Sommernachtstraum» arbeitet (später, als man an die langen Gänge zurückgeht, strahlt einem aus einem der Probensäle Polina Semionova entgegen). Aber jenseits der hochkarätigen Produktionen und der hervorragend aufgestellten Kompanie (auch für das klassisch-romantische Repertoire!) hat der Hype, der ums Staatsballett entstanden ist, auch mit gutem Marketing zu tun. Mit den YouTube-Videos etwa, die künstlerisch einen eigenen Wert haben und großartige Einblicke in die Probensäle ermöglichen. Ja, und vermutlich hat es auch mit guten Vibes zu tun.
«Inzwischen ziehen wir hier alle an einem Strang», sagt Spuck. So freudig, wie er sich dabei zurücklehnt, kann man nicht anders als ihm zu glauben. Mit allen 120 Mitarbeiter*innen führt Spuck Feedback-Gespräche, bei denen er aber niemandem etwas aufzwingt, sondern jeweils fragt, ob ein Feedback gewünscht ist – er jedenfalls bittet immer um eines für sich selbst. Wer je angestellt gearbeitet hat, weiß, dass eine solche Kultur alles andere als selbstverständlich ist.
Von der guten Atmosphäre spricht, als man ein paar Türen weiter nach vorne geht, auch Michael Banzhaf, der künstlerische Betriebsdirektor des Staatsballetts. Zwanzig Jahre hat er selbst als gefeierter Star in Berlin getanzt, ist Kammertänzer – und war schon vor der Fusion der drei Kompanien dabei und hat alle Krisen und Veränderungen miterlebt. Mit Christian Spucks Amtsantritt wurde die Hälfte der Kompanie ausgewechselt. Er habe geglaubt, so Banzhaf, dass das zu einer großen Herausforderung werde. «Aber sie sind sehr gut zusammengewachsen, von Anfang an.» Gar nicht groß genug, sagt er, könne man dabei den Einfluss der beiden dem Staatsballett eng verbundenen Gastballerinen Polina Semionova und Iana Salenko einschätzen. Ihre Bescheidenheit, Offenheit und die Abwesenheit von Allüren. «Sie sind große Vorbilder und haben den Geist der Kompanie mitgeprägt.»
Drastische Kürzungen
Fast könnte man bei all dem vergessen, wie ernst die Situation in Berlin gerade ist – und es wohl auch auf lange Sicht bleiben wird. Erst im Herbst 2024, als die Haushaltspläne für das kommende Jahr schon lange standen, gab die Berliner Politik bekannt, dass 2025 drei Milliarden Euro aus dem Haushalt gestrichen werden müssen. Rund 130 Millionen Euro davon, zwölf Prozent des gesamten Budgets, bei der Kultur. Eine gewaltige Summe. Die Kulturschaffenden standen Kopf, taten sich zusammen, protestierten lautstark (tanz 1/25). Auch Spuck war wütend. Ein wenig fassungslos über das Vorgehen ist er bis jetzt. Die Opernstiftung, zu der die drei Berliner Opern und das Staatsballett gehören, hat es dabei nicht ganz so schlimm getroffen wie viele andere. Fünfzehn Millionen werden aus ihrem Etat von 170 Millionen Euro gekürzt. Die Opernstiftung, so Spuck, habe einen eigenen Finanzausschuss gegründet, der prüfen wird, wo und wie sich durch kluge Umstrukturierungen Geld sparen lässt. Anders als noch vor drei Monaten, wirkt er gelassen. Die kommende Spielzeit wird so umgesetzt, wie geplant. Auch wenn vieles noch in der Schwebe ist. Etwa, wie hoch die Kürzungen in 2026 ausfallen werden. Nur dass weitere drastische Kürzungen kommen, das steht schon fest.
Eigentlich, so hatte man nach der Pressekonferenz im Frühjahr 2024 geglaubt, hätte das Staatsballett gute Chancen auf eine Erhöhung seines Budgets. Damals sprach Spuck davon, dass mit den 80 Tänzer*innen in seiner ersten Spielzeit nur 82 der insgesamt 110 Vorstellungen gespielt werden konnten, die dem Staatsballett im Rahmen der Opernstiftung zustehen. Mehr war logistisch neben den Proben nicht umzusetzen. Ob nicht das Ensemble vergrößert werden könne, fragte eine Journalistin, und Christian Spuck antwortete, dass das, wenn die Politik es möglich machen würde, natürlich großartig wäre. Nun ist es ganz anders gekommen. Aber inzwischen ist Repertoire aufgebaut. 92 Vorstellungen gibt das Staatsballett in dieser Spielzeit. Mehr als maximal 100 Vorstellungen sind perspektivisch laut Spuck mit der jetzigen Größe der Kompanie nicht zu schaffen. Aber die Kasse stimmt auch so, und Christian Spuck lässt sich von den drohenden Einsparungen nicht mehr erschüttern. «Ich bin in Berlin angekommen und glücklich, dass ich hier bin», sagt er. Und dann spricht er davon, dass Kunst Menschen zusammenbringt, und sie auf eine Weise, wie sie allein es vermag, gemeinsam etwas erleben und spüren lässt. Wie zuletzt in Ohad Naharins «Minus 16», wo die Zuschauer selbst auf die Bühne kommen und mit leuchtenden Augen und offenen Herzen die Vorstellung verlassen. Es geht Spuck um eine Vision davon, was Ballett alles sein kann. Man kann also neugierig sein auf das, was kommt.

Tanz März 2025
Rubrik: Report, Seite 61
von Michaela Schlagenwerth
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