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Wer soll führen? Fragen an den Wiener Ballettdirektor Martin Schläpfer

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Martin Schläpfer, wir haben es zusehends mit der Diskussion zu tun, wer an der Spitze eines Ensembles stehen soll: Choreograf*in, Ex-Tänzer*in, Kurator*in, Team? Wie sehen Sie das? 
In der richtigen Qualität und mit der dementsprechenden Expertise ausgeführt, sind alle Modelle möglich und sinnvoll – allerdings gewichten sie verschieden, stellen unterschiedliche Prioritäten in den Vordergrund. Ein Choreograf leitet, denkt und waltet anders als ein Managing Director oder ein Ex-Étoile oder Principal Dancer.

Und er kann mit seiner eigenen Arbeit ein anderes, und ich behaupte schlussendlich eigenständigeres, nicht austauschbares Profil entwickeln, künstlerisch wie tanztechnisch einzigartig. Ohne es werten zu wollen – bei den großen Häusern zeigt sich eine klare Tendenz: Choreograf*innen-Direktor*innen gibt es fast keine mehr. Bei kleineren Häusern finden sich diese noch eher, was aber damit zu tun hat, dass man sich dort meist keine künstlerische und separierte kaufmännische Direktion nur für die Tanz- oder Ballettsparte leisten will. Aber auch hier kann man eine Tendenz zum rein kuratierten oder dramaturgisch geprägten Leitungsstil beobachten.

Was bedeutet es, als Choreograf ein Ensemble zu führen? 
Ein choreografierender Direktor prägt mit seiner Arbeit das Ensemble, aber auch umgekehrt. Für eine große Kompanie wie das Wiener Staatsballett besetze ich anders als bei einem 20-köpfigen Ensemble. Da mehr Tänzer*innen zu beschäftigen sind, werden die Besetzungen größer und verändern sich auch die Arbeiten, gewollt oder ungewollt, die Tänze. Das muss nicht immer Hand in Hand gehen mit meinem eigentlichen künstlerischen Bedürfnis – aber mit mir als Direktor. Mir war tendenziell immer wichtig, dass alle Künstler*innen herausgefordert sind, sich möglichst wertgeschätzt fühlen. Denn nur ein gut ausgelastetes Ensemble ist «glücklich» – und hat somit Charisma und Strahlkraft auf der Bühne.

Wie wichtig ist ein Alleinstellungsmerkmal? 
Für mich ist das Alleinstellungsmerkmal – die künstlerische Eigenständigkeit, ja Eigensinnigkeit – absolut zwingend. In der Regel ist das auch der eigentliche Grund, für ein Gastspiel angefragt zu werden. Natürlich zieht auch die zum x-ten Mal gezeigte «Giselle», wird sich verkaufen. Das Werk ist ein historischer Meilenstein und ohne Zweifel hat die Pflege der hohen Kunst des Balletttanzes großen Wert, gehört zum Kanon. Aber die Tanzkunst weiterbringen tut sie nicht. Aus seiner Historie heraus will ein Royal Ballet selbstverständlich etwas anderes als es zum Beispiel ein William Forsythe mit seinem Ballett Frankfurt seinerzeit wollte. Aber von Graham über Balanchine, Cunningham, Cranko, Ek, Bausch, Neumeier, Kylián, Waltz … waren es alle großen Choreograf*innen, die unverwechselbare Ensembles, Techniken und Tanzkünstler*innen geprägt haben. Damals gab es eine solche Vielfalt choreografischer Sprachen auf allerhöchstem Niveau – und gleichzeitig hat auch der Klassische Tanz geblüht, war weniger entleert. Alles geht durch Phasen.

Wo stehen wir? 
Ich beobachte, dass es für die nicht choreografierenden Direktor*innen eine große Herausforderung ist, Spielpläne zu denken, die nicht austauschbar daherkommen, nicht nur das gerade «Allerheißeste», dem alle nachrennen, zu zeigen, Ballette und eine Programmierung so zu bauen, dass sie eine Identität haben. Hier findet derzeit schon eine starke Angleichung statt. Das mag für ein einzelnes Land, das Publikum einer einzelnen Stadt wunderbar sein. Aber es gab eine Zeit, da waren der Tanz und die Ballettkunst internationaler denkend und planend, standen mehr wichtige Handschriften und Kompanien mit einem starken eigenen Profil nebeneinander als heute – reichhaltig, inspirierend, durchaus auch konträr. Ich beobachte, dass ohne Choreograf*innen, die auch Direktor*innen sind, vieles davon verloren geht – und die Frage, wie Nachwuchs-Choreograf*innen für die große Bühne zu choreografieren lernen sollen, auch die stellt sich mit zunehmender Schärfe.


Tanz Jahrbuch 2024
Rubrik: Macht, Seite 40
von Hartmut Regitz

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