Erlösung bietet allein der Tod
Der Augenblick der Seligkeit, er währt nur wenige entrückte Minuten.
Wie ein mondbeschienener Liebestraum in Ges mutet dieses Andantino non troppo lento im wiegenden 6/8-Takt an, in dem Anna Brull (als stimmlich wie darstellerisch exquisite Königin von Karthago) und Iurie Ciobanu (als glaubhaft mit sich und den Umständen ringender trojanischer Krieger) innig umschlungen und in den wärmsten Klangfarben versinken – ein Genuss der besonderen Art auch deswegen, weil Vassilis Christopoulos die Grazer Philharmoniker nicht nur in diesem magischen Moment musical zu irisierend-ätherischem Spiel animiert. Der Schöpfer eines der schönsten Liebesduette des 19. Jahrhunderts hat sich für die Nacht der Trunkenheit und unendlichen Ekstase, zu der die Titanin Phoebe Blumen aus Licht vom Himmel herabregnen lässt, bei William Shakespeare bedient, genauer: bei der amourösen Szene im fünften Akt zwischen der Jüdin Jessica und dem Christen Lorenzo aus dem «Kaufmann von Venedig». Doch wie nahezu jedes Glück endet auch das zwischen Didon und Aeneas, kaum hat es Kontur gewonnen. Plötzlich bläht sich der zuvor zarte Klang zum fortissimo auf, vollzieht die Musik eine enharmonische Verwechslung zu D-Dur und erscheint Merkur auf der Bildfläche, um den Trojaner an seinen Auftrag zu gemahnen: «Nach Italien» führt der Weg, hin zum Krieg, fort aus dem trügerischen Idyll.
Auf der Bühne der Grazer Oper aber ist es nicht ein Gott oder ein Götterbote, der einschreitet. Es ist ein Geist, in dem man einen Seelenverwandten Hectors erkennt, jenes von Achill, dem Griechen, hingeschlachteten Helden, der schon im ersten Akt mit nacktem, blutverkrustetem Oberkörper, bleichem Gesichtsausdruck und wirrem Haar durch die Szenerie schreitet, wie ein Damoklesschwert auf zwei Beinen, und dessen Schicksal als Menetekel für das Leiden seiner Landsleute dient. Auch in diesem Moment der Vereinigung zweier Seelen und Körper gewinnt er die Oberhand. Mag Aeneas noch so viel empfinden für die stolze, schöne Witwe des gemeuchelten Sichäus, der Befehl bindet und blendet ihn. Und er fordert ein zweites Suizidopfer. Nichts wird es mit Hölderlins Hoffnung, dass dort, wo Gefahr ist, auch das Rettende wachse.
Tatjana Gürbaca ist eigentlich keine Regisseurin, die dem Geist der Utopie ausweichen würde. Angesichts des vorliegenden Bühnenwerks und der auch in klanglicher Hinsicht darin waltenden (von Christopoulos und seinem Orchester trennscharf entfesselten) dystopischen Energien aber weiß auch sie weder Rat noch hoffnungsfrohe Lösung. Weil es das Eine wie das Andere nicht gibt. Zu massiv ist die Macht der Negativität, und das bedeutet im Fall dieser fünfaktigen, für die erste Grazer Aufführung überhaupt klug gestrafften Grand Opéra, dass zwei liebende Frauen den Freitod wählen, um erlöst zu sein. Ihre Motive indes sind unterschiedlich. Cassandre wählt ihn (als Anführerin der trojanischen Frauen, die sich, wie sie selbst, den Dolch ins Herz rammen), um der anstehenden Unterjochung durch die Griechen zu entgehen, Didon trinkt den tödlichen Tablettendrink, weil sie nach der erlittenen Schmach, dass Aeneas sie verlässt, obwohl seine Liebe aufrichtig zu sein scheint, um zu «höheren» Zielen zu eilen (was ist eine Liebesnacht letztlich gegen eine Staatsgründung?), keinen Sinn mehr in ihrem Leben zu entdecken vermag.
Streng genommen handelt es sich bei «Les Troyens» um ein Diptychon, dessen Teile hermetisch genug sind, um unabhängig voneinander aufgeführt zu werden. Bühnenbildner Henrik Ahr verbindet beide Welten mit einem einfachen, aber genialischen Kniff: Zentrale Spielfläche ist – als Zufluchts-, Sehnsuchts- und Phantasieort – ein leicht gekipptes Quadrat aus hellem Holz, eine Mischung aus Scholle, Floß (der Medusa?), Bassin und Grabstätte, das von verschiebbaren (Rück-) Wänden abgeschirmt wird; weit und breit ist da nichts, woran sich die Menschen festhalten könnten. Das ergibt schon allein deswegen tieferen Sinn, weil sich in der Lebensrealität der Trojaner und Karthager Parallelen entdecken lassen. Beide Völker streben, durch jahrelange Kriege zermürbt, nach Frieden, doch beide sind sie, wenngleich in unterschiedlichen Graden, was die Intensität der Bedrohung angeht, umgeben von einem fehde -lüsternen Feind – hier die Griechen, dort die Numider. Und beide triumphieren immer an den falschen Stellen; die Trojaner, weil sie annehmen, die Aggressoren hätten ihre Ambitionen zurück -gestellt, die Karthager, weil sie glauben, auf einer «Insel» der Glückseligen zu leben. Den nicht unbeträchtlichen Unterschied kann man in Ahrs Bühnenbild ebenso sehen wie in den nuancierten Kostümen von Barbara Drosihn: In Troja sind die Holzwände mit Inschriften beschmiert, tragen die Männer Stiefel und die Frauen, mit Ausnahme Cassandres, biedermeierliche Kleider, in Karthago wirkt das Holz wie blankgewienert, dienen Flipflops als Schuhwerk und dominieren in den «Gewändern» lichte, frühlingshafte Farben. Anna, Didons unbeschwerte, Leben und Liebe zugewandte Schwester (mit leicht-vitalem Sopran: Neira Muhić), kommt sogar in einem türkisfarbenen Ballkleid daher, und der Staatsdichter Iopas (Euiyoung Peter Oh) in einer quietschrosa Kniebundhose.
Ganz anders stellt sich die Lage in Troja dar. Zehn Jahre Krieg haben Herzen gebrochen und Hoffnungen zerstört. Das allgemeine Leid ist offenkundig, die Regisseurin zeigt dies mit der gebotenen Schonungslosigkeit, ohne sich durch eine zeitliche Verortung einzuengen. Sie zeigt aber auch, und das macht eine große Qualität ihrer noch bis ins kleinste Detail durchdachten Inszenierung aus, wie naiv eine Gemeinschaft sein kann, wenn sie nicht zuhört. Eine ist ja da, die dem Volk (das, begünstigt durch eine phantastische Personenführung, vom Philharmonia Chor Wien und dem Chor der Oper Graz mit überschäumender schauspielerischer Vitalität agiert) die unschöne Wahrheit ins Gesicht schleudert, aber Cassandre wurde von den Göttern verdammt, so dass man ihr keinen Glauben schenkt. Mareike Jankowski leiht der sichtlich gealterten Seherin ihre mächtige, zugleich lyrisch sanfte Stimme, und auch darstellerisch ist die Mezzosopranistin eine Wucht. Kostümbildnerin Drosihn hat ihr einen schwarzen Hosenanzug mit rotem T-Shirt über die Haut gegossen, der das Martialische ihrer prekären Existenz betont und das erotische Potenzial nicht ausblendet. Diese Cassandre ist sowohl Femme fatale als auch Femme fragile. Im Finalakt erscheint sie an der Seite der anderen trojanischen Geister, an jenem Ort, wo die von Aeneas und seinen Mannen aus Troja «geretteten» Schätze aufbewahrt wurden (es ist die Rückseite der Bühnenwand, die zuvor beide Städte umgürtete), als drogenangewehter Gruftie mit schwarzer Sonnenbrille und besiegelt gemeinsam mit ihnen das Ende einer Liaison dangereuse, aus der mehr hätte werden können. Allein, Aeneas trägt bereits wieder seinen blassroten Kampfoverall und eine Pistole in der Hand. Seine Bestimmung ist es, Eroberer zu sein und nicht Liebender und Vater, da können Didon und Ascagne (die agile Ekaterina Solunya) noch so wild verzweifelt um seine Zuneigung ringen. Was die Szene nicht hergibt, ein versöhnliches Ende, hören wir immerhin in der Musik. Und denken dabei an den Satz von Edgar Allan Poe, dass der Tod einer schönen Frau das poetischste Thema der Welt sei. Didon stirbt, aber der Augenblick der Seligkeit wird für immer unvergessen bleiben.
Berlioz: Les Troyens
GRAZ | OPER
Premiere: 18. Januar 2025
Musikalische Leitung: Vassilis Christopoulos
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühne: Henrik Ahr
Kostüme: Barbara Drosihn
Licht: Stefan Bolliger
Chor: Johannes Köhler, Walter Zeh
Solisten: Iurie Ciobanu (Enée), Anna Brull (Didon), Mareike Jankowski (Cassandre/Spectre de Cassandre), Markus Butter (Chorèbe/Mercure/Spectre de Chorèbe), Neira Muhić (Hécube/Anna), Wilfried Zelinka (Priam/Narbal/Spectre de Priam), Ekaterina Solunya (Ascagne), Will Frost (L’Ombre d’Hector/Panthée/Spectre d’Hector), Euiyoung Peter Oh (Iopas/Hylas), Martin Fournier (Hélénus) u. a.

Opernwelt März 2025
Rubrik: Im Focus, Seite 12
von Jürgen Otten
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