Gulliver über den Köpfen
Auf die Frage, warum Puppentheater nie alt wird, antwortet Christoph Werner, der Künstlerische Leiter, dass Theater nie alt werde. Theater habe keine Vergangenheit und keine Zukunft, es sei in jeder Hinsicht eine gegenwärtige Kunstform: „Man muss es in dem Moment erleben, in dem es stattfindet. Und hat man es verpasst, ist es für immer dahin.“ Die Vergänglichkeit, die Kostbarkeit, im besten Fall die Leichtigkeit des Augenblicks sollten in den wenigen Tagen, an denen das Gulliver-Festival anlässlich des 70. Geburtstags des Puppentheaters in Halle stattfand, erlebbar werden.
Dafür verließen das Puppentheater und die vier anderen Sparten der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle (der Oper und dem Ballett, dem neuen theater und dem Thalia Theater sowie der Staatskapelle) ihre Spielstätten und begaben sich in den Stadtraum – für alle Menschen sicht- und erreichbar. Im Freien braucht es eine große Geschichte, die Auseinandersetzung mit dem Thema Groß und Klein, mit Größenund Machtunterschieden lag auf der Hand. Eine bekannte, zugängliche Geschichte sollte es ein. So fiel die Wahl auf „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift. Jede Sparte würde an verschiedenen Orten der Stadt eine Station dieser Odyssee auf die ihr eigene Art und Weise erzählen. Und das Ganze sollte eröffnet werden von einer Puppe, die ausnahmsweise nicht klein, sondern größer als alle anderen ist.
Groß und leicht
„Alles, was groß ist“, erzählt Werner, „davon denken wir Menschen, dass es auch schwer sein muss. Was wäre denn, wenn wir was Großes machen, das nicht schwer, sondern leicht ist? Eine ganz einfache Sache eigentlich. Die 1976 gegründete Compagnie „Plasticiens Volants“ aus dem französischen Graulhet, die älteste Straßentheatergruppe Frankreichs, entwickelte daraus ein Konzept, mit dem sie seit 50 Jahren um die Welt tourt. Mit Frankreich verbindet das Puppentheater in Halle zahlreiche Kooperationen, zum Beispiel 2015 die Inszenierung „Das Bauchrednertreffen – The Ventriloquists Convention“ unter der Regie von Gisèle Vienne, das in den USA, in der Schweiz und in Frankreich gastierte – oder Zusammenarbeiten mit Joël Pommerat („Meine Kältekammer“, 2011) und erst kürzlich mit Yngvild Aspeli („Dracula“, 2021). Sie kennen sich in der französischen Szene aus und sind im Austausch mit Scouts und Beratern auf der Suche nach passenden Kooperationspartnern.
Marc Mirales, Gründer und Künstlerische Direktor der Plasticiens Volants, schreibt über die Compagnie: „Wir erfinden, modellieren, montieren und pigmentieren aufblasbare Luftskulpturen, um den Himmel mit imaginären Märchen zu bevölkern.“ So kam eins zum anderen und die Plasticiens Volants entwickelten unter der Regie von Jean-Philippe Hemery den Hallenser „Gulliver“ – eine Puppe, die wie eine umgedrehte Marionette funktioniert: Eine Marionette wird von oben an Fäden gehalten und steht durch die Schwerkraft auf dem Boden. Die fliegenden Skulpturen der Compagnie werden hingegen von unten mit Seilen gehalten, sonst würden sie in den Himmel schweben.
Proben ohne Originalort
Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit sitzen eine Woche vor der großen Eröffnungsfeier des Puppengeburtstags in Halle am 15. und 16. Juni 2024 insgesamt 24 Spieler:innen – angeleitet von Hemery – auf der Bühne des ehemaligen Thalia Theaters in Halle, über einen Plan des Marktplatzes der Stadt gebeugt. Das Ensemble besteht aus Erfahrenen und Neueinsteigenden. Aber diesmal ist es für alle eine neue Herausforderung. Auf die Frage, wie man probiert, ohne am Originalort proben zu können, lacht Hemery: „Das ist das grundlegende Charakteristikum unserer Proben. (…) Leider ist es nicht immer ein festes Team. (…) Immer teilen wir möglichst erfahrene Menschen mit neuen Teammitgliedern ein, die noch nicht so oft dabei waren. Diese erleben ihre erste Probe vor Ort und ihre Premiere zur selben Zeit. Dieses Mal sogar noch mit einer ganz neuen Figur, die selbst Erfahrene noch nicht gespielt haben, weil sie extra für Halle angefertigt wurde.“ Nie zuvor hat die Compagnie mit einer so großen Puppe gespielt (am Ende kam Gulliver auf eine Höhe von 20 Metern), die so vieler Bewegungen mächtig ist. Ihre Gestalt und ihre spielerische Handhabung sind eine Hommage an den „Vierfüßler“, für den das Puppentheater Halle bekannt ist. „Vierfüßler“ nennt man eine Puppe, in der zwei Spielende stecken – im Kopf und im Hinterteil –, deren Führung der Puppe wie ein Körper harmonieren muss. Gulliver ist ein Hybrid aus den typischen fliegenden Gestalten der Plasticiens Volants und einem Vierfüßler – oder in diesem Fall einem Mehrfüßler. Acht Spielende erweckten ihn zur Premiere zum Leben: drei bewegten den Kopf, einer hielt den Rücken, jeweils an einer Manschette und an den Füßen befand sich jeweils eine weitere Spielerin.
Figuren und Emotionen
Hemery war von der ersten Idee für die Gulliver-Puppe bis zur Aufführung des Spektakels Mitte Juni in Halle dabei. Zu Beginn überlegt die Gruppe immer gemeinsam, wie die Puppe aussieht, was sie erzählen soll. Die letzte Entscheidung, bevor es in die Herstellung geht, liegt bei dem Künstlerischen Leiter Mirales. Er ist auch derjenige, der die Handlung schreibt. Auch das war in diesem Fall, dem Jubiläum, eine besondere Herausforderung: Normalerweise erzählt die Compagnie ihre Geschichten mithilfe von Musik, Licht und durch die Illusion der Lebendigkeit ihrer fliegenden Protagonisten. Diesmal sollte es eine Theateraufführung werden, in der die Gulliver-Figur unter anderem mit Schauspieler:innen agiert, dem König von Lilliput und seinem Gefolge. Hemery weiß aus seiner jahrelangen Arbeit in der Compagnie, wie sich eine Geschichte mit einer Figur umsetzen lässt, wie sie bewegt werden muss, um zum Beispiel ein bestimmtes Gefühl auszudrücken. Daraufhin prüft er die Handlung: „Die Magie des Ganzen besteht in erster Linie daraus, welche Emotionen diese Figur bei dem Betrachter auslöst. Und darüber habe ich keine Kontrolle. Ich mache eher eine handwerkliche Arbeit. (…) Jedes Mal, wenn da zum Beispiel eine Emotion steht oder ein Gefühl, dann muss ich versuchen, eben dieses Gefühl in die Figur körperlich zu übersetzen. Das heißt, wenn da steht, die Figur ist erstaunt, muss ich mir überlegen, wie kann diese aufblasbare Figur dieses Erstaunen spielen? Macht sie einen Schritt zurück, nimmt sie die Arme hoch oder wie genau setzt sie diese Überraschung um.“
Einzelteile für den Puppenbau
Auch bei der Fertigung der Figur war er von Anfang an dabei. Nachdem die Entscheidung über das Aussehen der Gulliver-Figur gefällt war, modellierte er eigenhändig aus Ton den Modellkopf. Der Rest des Körpers wurde in 3D am Computer konstruiert. Den Entwicklungsprozess nicht völlig ins Digitale zu verlagern, ist Hemery wichtig: „Wenn man komplett am Computer modelliert, fehlt ein Schritt. Denn an einem Modell, das vor Ort steht, das man sich angucken kann, sieht man viel mehr, was funktionieren könnte und was nicht.“ In einem nächsten Schritt wurde der tönerne Modellkopf weiß bemalt und mit einem Raster aus horizontalen und vertikalen Linien versehen. Mithilfe dieses Rasters konnte er ebenfalls in das Computerprogramm übertragen werden, sodass sich die Figur komplett in 3D animieren ließ. Wie auch in Theatern inzwischen für die Herstellung von Bühnenbildern üblich, wurde anschließend eine Konstruktionszeichnung ausgedruckt. Diese war die Basis für das Schnittmuster. Als grober Bauplan aufs Papier gebracht, wurde das Schnittmuster in einzelnen Elementen in Originalgröße ausgedruckt und auf Fallschirmseide übertragen. Die Stoffteile dieser Größe werden in einer ehemaligen Plattenfabrik in Graulhet verarbeitet – dorthin zog 1999 Plasticiens Volants, weil die Anfragen aus aller Welt und damit die Compagnie wuchsen. Die Räumlichkeiten beherbergen unter anderem eine große Segelmacherwerkstatt und einen großen Malsaal. In der Segelmacherwerkstatt gibt es keine Tische. Der gesamte Fußboden wird als Arbeitsfläche genutzt. Vertiefungen für die Arbeitsplätze sind in den Boden eingelassen. Bevor die Gulliver-Figur bemalt werden konnte, musste sie – ob ihrer Größe – noch einmal in Einzelteile zerlegt werden. Dann wurden erst die Körperteile in Grundfarben eingefärbt. Für die Feinheiten wurde die Puppe bzw. die einzelnen Teile, im dafür vorgesehenen Malsaal in Frankreich aufgeblasen und von Mirales bis ins Detail eigenhändig koloriert. Wer beim Aufblasen der Puppe auf dem Hallenser Marktplatz zufällig neben dem Kopf stand, konnte in den Pupillen der übergroßen Augen die Spiegelung zweier Türme sehen. Vielleicht eine kleine Reminiszenz an die Hallenser Hausmannstürme?
Beweglich trotz Bodenhaftung
Im Inneren besteht die Puppe aus Kammern, die miteinander verbunden sind. Auf dem Hallenser Marktplatz angelangt, wurde Gulliver zuerst mit einem batteriebetriebenen Gebläse mit Luft gefüllt. Die Fallschirmseide ist semipermeabel: Luft kann entweichen und wird ständig nachgefüllt. Dafür trugen die Spielenden auf ihren Rücken Batterien, die mit dem Gebläse verbunden waren. Das hat den Vorteil, dass die Figur nicht irgendwann prall gefüllt und steif wird, sondern nachgeben kann, sich z. B. nach einer Drehung des Kopfes zurückdreht und beweglich bleibt. An vorher genau definierten Teilen der Figur sind die Nähte mit Polyethylen verschweißt, sodass kleine Taschen entstehen. Damit sich die Figur aufrichten konnte, wurde nach der Luftzufuhr Helium in diese Polyethylen-Taschen geleitet. Diese Methode hat die Compagnie selbst entwickelt. Früher haben sie oft Wetterballons aus Latex mit Helium gefüllt und in den Puppen platziert. Jetzt arbeiten sie damit seltener: Zum einen passt das vorgegebene Volumen nicht immer in die Formen der Figuren, zum anderen vertragen die Ballons keine großen Temperaturunterschiede und können platzen. Lebendig wirkt die Puppe, weil die Polyethylen-Taschen an verschiedenen Stellen eingebracht werden, zum Beispiel in den Manschetten, um weiche, natürliche Bewegungen der Hände zu ermöglichen. Dabei wurde berücksichtigt, dass Gullivers Füße auf dem Boden bleiben, sein Kopf, Oberkörper und Arme aber nach oben aufsteigen müssen. 217 m3 Helium ließen Gulliver und seine Gefährten „aufstehen“ bzw. fliegen. Die Befüllung auf dem Marktplatz von Halle dauerte reichliche zwei Stunden und wurde von Hunderten Neugierigen verfolgt. „Unser Feind ist der Wind“, erzählte Hemery vorab. „Die Temperatur ist uns egal. Nur wenn es einen großen Temperaturunterschied zwischen dem Aufblasen der Figur mit Helium und der Show gibt, dann kann es Schwierigkeiten geben. Alles ab einer Differenz von fünf Grad gibt einen Druckunterschied.“ Das laue Lüftchen, dass am 15. Juni, dem ersten Aufführungstag, in Halle wehte, war für das Publikum angenehm. Vorab hatte die Compagnie jedoch mehrere Szenarien erarbeitet. Im schwierigsten Fall hätte sich Gulliver nur aufsetzen können, nicht aber durch die Stadt laufen und zum Hallmarkt getragen werden. Während die Schauspieler:innen schon auf Hebebühnen und Wagen ihr Spiel begonnen hatten, musste kurz noch eine ausgefallene Lüftung gewechselt werden, dann erhob sich Gulliver. Neben den acht Spielenden an der Puppe waren zahlreiche Helfende damit beschäftigt, die Sandsäcke, mit denen Gulliver immer wieder gesichert wurde, aus dem Weg bzw. an die richtigen Stellen zu räumen.
Entspanntes Spiel und gemeinsames Staunen
Die Erfahrung der Compagnie zeigte sich nicht nur im entspannten Umgang mit Zwischenfällen, sondern auch schon in der genauen Vorbereitung: Es gab einen ausführlichen und anschaulichen Technical Rider, der zum Beispiel das exakte Füllgewicht der Sandsäcke definierte. Angeleitet von Jean-Philippe Hemery, der das Geschehen koordinierend begleitete, den Spielenden und Hunderten Zuschauenden machte Gulliver sich an diesem ag auf seinen Weg vom Marktplatz zum Hallmarkt. Vielleicht der schönste Moment: Als der Schauspieler Jonas Schütte als König das Publikum aufforderte, zwischen den Beinen des Riesen hindurchzulaufen. Sofort folgten unzählige Kinder dieser Einladung. Überhaupt schaffte Gulliver, was in der momentanen gesellschaftlichen Situation nur selten gelingt: Menschen unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft standen staunend nebeneinander, liefen neben Gulliver vom Markt zum Hallmarkt und beobachteten wie dieser dort aus dem Brunnen „trank“. Eine Nacht durfte er – gut bewacht – auf dem Hallmarkt schlafen, um am nächsten Tag auf seine Gefährten zu treffen. Dann musste Halle sich schweren Herzens von „seinem“ Gulliver verabschieden. Bei einem einmaligen Auftritt mit der Compagnie wird es für ihn nicht bleiben. Alle Puppen werden in anderen Spektakeln wieder verwendet. Manche sind schon über 30 Jahre alt und haben Narben, geflickte Stellen, die von ihren Auftritten auf der ganzen Welt erzählen. Wer weiß, wo Gulliver wieder auftauchen und wohin er die Hausmannstürme in seinen Augen noch tragen wird.
Eva Geiler ist Referentin der Künstlerischen Leitung von neues theater & Thalia Theater in Halle/Saale. Von 2020 bis zur Spielzeit 2022/23 war sie verantwortlich für die Kommunikation der Sanierungsmaßnahmen am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
BTR 4 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 15
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