Killer der Adjektive

Pünktlich zum 80. Geburtstag erscheint Thomas Braschs gesammelte Prosa

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Oft sind Wiederbelebungen ja bloß temporäre Hervorholungen zu gegebenen Anlässen, aus den hinteren Archivregalen, einmal mit dem Staubwedel drüber und in die Vitrine gestellt. Und nach dem Jubiläum geht’s zurück in die Vergessensecke. Damit der Jahrestag zur echten Renaissance führt, braucht es schon ein wenig mehr: nämlich das aufsteigende Gefühl, dass in dem wiederentdeckten Werk ein Stück von gegenwärtigem oder gar künftigem Leben antizipiert ist; einen Kuss des Zeitgeists, besser noch des Weltgeists.

Das Werk von Thomas Brasch, das zum diesjährigen 80.

Geburtstag des Dichters und Dramatikers an zahlreichen Bühnen Berlins (aber auch darüber hinaus) inszeniert wird, hat das Zeug für eine solche Renaissance. Nicht nur aufgrund seiner inneren Qualitäten, von denen gleich zu reden sein wird, sondern weil gerade jetzt der Osten Deutschlands, für dessen Intellektuelle Brasch eine veritable Galionsfigur war, in eine neue Selbstbehauptungsphase tritt. Zwischen forscher Polemik (Dirk Oschmann), kritischer Selbstbespiegelung (Ilko-Sascha Kowal -czuk) und analytischer Aufarbeitung (Steffen Mau) sucht sich der Osten gut dreißig Jahre nach der Wende Gehör zu verschaffen. AfD-Wahlerfolge rahmen den Diskurs. «Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, ist heute zwei Tage älter.» Solche Verse von Brasch fallen heute ganz anders ins Getriebe der Welt. Dieses scharfe Ins-Gericht-Gehen mit widerständigem politischem Anspruch und regressiver Kleinbürgerlichkeit wirkt zukunftsfest.

Lässiger Lederjackentyp
Im Suhrkamp-Verlag legt Martina Hanf, langjährige Mitarbeiterin an der Akademie der Künste Berlin, zum Jubiläumsjahr die gesammelte Prosa von Thomas Brasch in einem knapp 900-seiti -gen Band vor: Veröffentlichte wie unveröffentlichte Texte finden wir, literarische und theoretisch-essayistische Arbeiten. Mit interpretatorischen Einordnungen hält sich Hanf zurück, der umfangreiche Anmerkungsapparat besteht aus editorischen Informationen, nennt Quellen und Verlagsbeziehungen, in einem nüchternen Positivismus, wie er auch schon die Heiner-Müller-Werkausgabe bei Suhrkamp auszeichnete.

Viele der Perlen des Werkes wurden letzthin in dem Brasch-Abend «Halt’s Maul, Kassandra» von Kühnel/Kuttner am Deutschen Theater Berlin präsentiert, vor allem einige der zentralen Stücke aus dem kurzen Erzählband «Vor den Vätern sterben die Söhne», der wohl am meisten Braschs Nachruhm sichert. Literarisch gesehen zumindest, denn zu neunzig Prozent lebt Brasch als Popfigur auf YouTube und in Filmen fort: ein lässiger Lederjacken-Typ, der nach seiner Stellungnahme für den Prager Frühling vom Vater (dem Vize-Kulturminister der DDR Horst Brasch) an die Stasi verraten wurde und für 77 Tage in Haft kam, der 1976 die Petition für Biermann unterschrieb und bald nach Biermanns Ausbürgerung dann auch in den Westen übersiedelte, der dort nicht heimisch wurde und anstößig blieb, der bei der Verleihung zum Bayerischen Filmpreis 1981 unter den Argusaugen von Franz-Josef Strauß gegen das Einverständnis mit dem Staat sprach und als Gipfel der Provokation die DDR-Filmhochschulbildung lobte. Auch diese legendäre Rede ist im Suhrkamp-Band abgedruckt.

Im Herzen war der Filmemacher, Dramatiker und unvergleichlich robuste Shakespeareund Tschechow-Übersetzer Brasch vor allem Lyriker. Das zeigt diese große Prosasammlung klarer denn je. Die Texte sind kurz, selten länger als eine oder zwei Seiten, und durch und durch situativ, eine Abfolge von grobkörnigen Szenen, wie in Polaroids festgehalten.

Male Gaze und Femizide
Markant sind, wie bei vielen DDR-Autoren, die gleichnishaften und die mythischen Stücke, in denen am freiesten das Ringen mit dem Staat ausagiert werden konnte: «Der Zweikampf» etwa, über das Aufeinandertreffen des abgewetzten, bocklosen Flötenspielers Marsyas mit dem staatstragenden Gott Apoll, das in der Häutung des Marsyas und der Verzweiflung Apolls endet. Immer wieder wird die Staatsmacht direkt und indirekt adressiert.

Furchtlos interpretiert Brasch in einem seiner studentischen Aufsätze Sergej Eisensteins Film «Iwan der Schreckliche»: «Eine Betrachtung der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte und Gegenwart bringt immer wieder ähnliche Beispiele für solche Entwicklungen zutage: ein Herrscher oder Politiker kommt durch das Volk zur Macht, isoliert sich jedoch vom Volk und wird schließlich ein grausamer Despot.» Das sind Diagnosen, mit denen man in der DDR ein Berufsverbot riskierte und deren Gehalt doch auch weit über die politische Wirklichkeit anno 1967 hinausreicht.

Erwartungsgemäß geistern als Gegenentwurf zum politischen Despotismus zahlreiche dissidente, autobiografisch eingefärbte Helden durch die hier versammelten Texte, so wie der Fräser Konrad S. (Fräser im Transformatoren -werk «Karl Liebknecht» in Berlin-Ober -schöneweide war Brasch selbst nach seiner Haftentlassung), der seinen Kol -legen obszöne Lügen über Frauen auftischt und selbst von einem mono -gamen Mädchen träumt, «das nie mit keinem anderen ins Bett geht und viel liest».

Der Auftritt von Frauen erinnert bei Brasch stets heftig an Gomringers Gedicht «Avenidas»: Objektifizierung und «male gaze» gar kein Ausdruck. 1976/77 erhält Brasch vom «Stern» den Auftrag, den angesagten dirty old US-Poet Charles Bukowski zu porträtieren. Brasch kann mit der Chose nichts anfangen, legt mit einer kleinen Vignette «Bier für Bukowski» den Auftrag ad acta. Man kriegt den Eindruck, hier waren sich zwei doch zu ähnlich. Die Stadt ist zu klein für uns beide.

Immer wieder kippen Geschlechterkonstellationen in den Femizid. Ein gewisser Zadek darf als Frauenmörder und Kannibale seine Spuren hinterlassen; die Geschichte eines grotesken Mordes in «Die Fahrt mit dem Segelboot» wird zur Gründungserfahrung des Theaterkünstlers: «Die Frau ertrank, der Mann rettete sich und gelangte an Land. Dort wechselte er den Beruf, kaufte sich eine Jacke aus Wildleder und wurde Regisseur in einem Berliner Theater.» Das setzt, mal mehr, mal weniger ironisch, die Tradition maskuliner Ermächtigungsfantasie fort, die man in der Postmoderne für ein Auslaufmodell hielt, aber seit Trump, J.D. Vance & Co. kann man sich da ja nicht mehr sicher sein.

Mitleidlose Schärfe
Jedenfalls steckt in dem Brasch eine gute Portion «Woyzeck», und das bereits lange vor seiner Endlosbeschäftigung mit dem Mädchenmörder Brunke, die sein letztes Lebensjahrzehnt prägte, als er sich absonderte, nicht fertig wurde mit dem kolossalen Romanprojekt, in Drogen driftete. Bedeutsame Literatur in der Linie Büchner-Brasch verlangt offenbar den «schönen Mord», den Frauenmord.

«Neben Mord strahlen Reime», sagt Brasch denn auch ganz explizit in einem seiner poetologischen Texte, der auf eine Literaturdebatte um den Kritiker Fritz J. Raddatz und dessen These, während Auschwitz hätte man keine Gedichte schreiben dürfen, antwortet. «Mitleid ist gratis zu haben. Der wehleidige Blick in die Vergangenheit ist kein Ersatz für die Verweigerung einer Zukunft», schreibt Brasch. Und diese Schärfe, dieser mitleidlose Blick auf die Verhältnisse, macht die Kraft seiner Prosa aus – von der hellsichtig an Brecht entwickelten Verfremdungstheorie seiner Studienaufsätze bis in die späten literarischen Stücke.

In einem der schönsten, kleinen Texte aus dem Nachlass schreibt Brasch: «Das Adjektiv ist eine Erfindung der Leute, denen die Dinge nicht genug waren, wie sie waren.» Das Adjektiv müsse mithin «gekillt» werden. Und wirklich, Brasch ist in seiner Prosa wie in der Lyrik ein großer Arrangeur der Dinge. Er lässt ihnen ihren Raum, er lässt sie geschehen, ohne Moral, ohne Empathie, ohne mildernde Attribute, ohne Erschrecken vor dem Schrecken. Darin steckt seine Wucht. 

Thomas Brasch: «Du mußt gegen den Wind laufen»
Gesammelte Prosa, Hg. Martina Hanf, Berlin: Suhrkamp, 2025, 877 Seiten, 42 €


Theater heute April 2025
Rubrik: Magazin, Seite 67
von Christian Rakow

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