Freiheit, Anarchie, Kritik und Kunst

Die Titeldramatik der Frankfurter Hauptschule nimmt sich ein Beispiel an Martin Kippenberger

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Was ist das denn? Keine Personenangabe. Keine Orts- und Zeitangabe. Stattdessen eine 4-Spalten-Tabelle mit Nummerierungen von 1 bis 241 – und das gleich zwei Mal: Eben «2×241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger» von der Frankfurter Hauptschule. Und zwei Regieanweisungen: «Gesprochen» steht über der einen Spalte, «Projiziert» über der anderen.

Ein paar Nummern zum Nachlesen:
1 Selbstmord, ein Versuch
2 Stalingrad, ein Wintermärchen
8 Faust 1, 2 und 4 1 «Die DDR ist Fausts dritter Teil» (Walter Ulbricht)
22 Der Abendgang des Unterlandes
26 Le massacre du printemps
49 Wieso sieht Daniel Kehlmann auf jedem Foto so aus, als sei er gerade schlecht getroffen?
75 Ich kann «4’33» von John Cage in drei Minuten spielen
119 Noch keine halbe Stunde hier und schon wieder Bock auf alliierte Bomber
134 Seitdem ich weiß, dass Hugo Boss im dritten Reich SS-Uniformen geschneidert hat, trage ich keine SS-Uniformen mehr 

Gefälschte Freikarten
Wer nach der Frankfurter Hauptschule (FHS) googelt, trifft auf ein schwarz-weißes tondo-Emblem, das einen Punk mit Irokesenhaarschnitt im Profil zeigt. Gesäumt wird der Kopf nur von dem Schriftzug «FRANKFURTER HAUPTSCHULE» in capital letters. Es ist eine Mischung aus dem Logo der Frankfurter Hochschule für Bildende Künste/ Städelschule und dem Modelabel Diesel. Man erfährt, dass es sich um ein 20-köpfiges Künstler:innen-Kollektiv handelt, das aus dem Umfeld der Kunsthochschule und der Hochschule für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen kommt. Das Worldwideweb spuckt außerdem noch die Info aus, dass die FHS 2020 mit ihrer Aktion «Bad Beuys go Africa», ein vorgetäuschter und inszenierter Diebstahl einer Capri-Batterie von Joseph Beuys aus dem LWL Museum für Kunst und Kultur in Münster und einer medienwirksamen Überführung des vermeintlichen Beuys-Werkes nach Tansania, internationale Aufmerksamkeit erlangte.

Bereits 2013 tauchte die Gruppe erstmals im Rahmen der alljährlichen Bayreuther Festspiele auf, wo einige aus der Gruppe 50.000 gefälschte Freikarten für die Eröffnung der Festspiele an Bayreuther Haushalte verteilten; sie übten damit Kritik an dem verharmlosenden Umgang der Medien mit dem Antisemitismus des deutschen Komponisten Richard Wagners. Das rund um Wagners 200. Geburtstag angelegte Jubiläumsjahr 2013 stand unter dem Motto «Wagner für Alle».

Und jetzt das! Ein Text, den die FHS ausdrücklich als dramatischen Text verstanden haben will und der erst kürzlich beim 41. Heidelberger Stückemarkt mit dem Autor:innenpreis ausgezeichnet worden ist, wo er gerade beim 42. Heidelberger Stückemarkt uraufgeführt wurde (siehe S. 51ff in diesem Heft). Der Maler und Bildhauer Martin Kippenberger veröffentlichte 1986 das wenig bekannte Buch «241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler». Ausgehend von dieser Idee hat das Kollektiv Frankfurter Hauptschule eine eigene Sammlung von Titeln für Kunstwerke, die es nicht gibt, er- und gefunden und zu einem Text arrangiert.

Die Liste
Was ist das denn – ein Text, der ausschließlich aus Titeln besteht? Der keine Figuren kennt. Keine Dialoge. Keine lineare Erzählstruktur. Um welche Textgattung handelt es sich hier: Tragödie? Komödie? Tramödie? – Die Liste ist der Text. Jeder Titel ist nummeriert; er generiert sich aus einem Ordnungssystem. Die Titelkumulation selbst entsteht aus der künstlerischen Versuchsanordnung, dass sie das Ergebnis eines kollektiven Schreibens vieler ist. Es sind Titel voller spezialistischem Anspielungswahnsinn, großzügig cartoonesker Komik und ebenso großzügigen Faltenwürfen von Ironie. So entsteht ein Kaleidoskop popkultureller Referenzen, die sich überlagern, ineinander verschmelzen, widerstreiten, überfordern und zu boulevardeskem Klamauk, dialogischen Verwirrspielen, diabolischen Gemeinheiten, political incorrectness und sarkastischen Anrufungen der Nazizeit aufschwingen. Nur im Schrecken liegt die Rettung.

146 Kommunismus, das Schlimmste, was es nicht gibt
156 Was meinen Kommunismus betrifft, bin ich konservativ: Klassenkampf, gewaltsame Revolution, Diktatur des Proletariats
157 Taiwan oder Tibet, Hauptsache China
158 Ich habe Gerüchte gehört, dass ich mit einem Maschinengewehr ’rumrennen würde, es ist nicht wirklich ein Maschinengewehr, es ist eine Uzi
144 QAnon der Weltliteratur
236 Jeder Zeit die Kunst, die sie verdient

«Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken» benannte Kippenberger 1984 eines seiner Bilder, dessen verschränkte, eckige Formen die Betrachtenden überall Hakenkreuze erkennen lassen. Nachdem Reparationszahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945 lange verschleppt wurden und sich eine personelle Kontinuität in allen Bereichen des Lebens fortsetzte, nach den Pogromen, die der Wiedervereinigung folgten, nach den Anschlägen des NSU, dem Attentat in Hanau, dem Aufstieg der AfD und dem aktuellen Anwachsen antisemitischer und rassistischer Straftaten muss man ernüchternd konstatieren: Auch heute lassen sich noch sehr viele Hakenkreuze entdecken.

So hintersinnig Martin Kippenberger auf eine mangelhafte Aufarbeitung mit seiner Arbeit hingewiesen hat, so entlarvend und gleichzeitig humorvoll findet die FHS in ihrem Stück «2×241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger» einen Umgang mit dem Erstarken (rechts)nationalistischen Gedankenguts. Die sozialen Medien werden überflutet von Fake News. Memes vom Kapitolsturm gehen um die Welt und werden ikonisiert. Dies zeugt nicht zuletzt von der Aneignung künstlerischer Formen, der Ironiefähigkeit und Gamification der Alt-Right, Reichsbürger:innen, Querdenker:innen und anderer Protagonist:innen der Neuen Rechten. Das inflationär-oberflächliche Aufpoppen faschistoider Ästhetik, aber auch die mediale Omnipräsenz der Neuen Rechten wird mit dem Text der FHS inhaltlich und formal kritisch befragt: Hat sich der Nationalsozialismus in Clickbait verwandelt? Bedingt die Allgegenwärtigkeit von NS-Ästhetik den zunehmenden Rechtsruck? Und wenn sich neofaschistische Subkulturen ganz gezielt popkultureller Codes bemächtigen, wie ist einer Bedrohung von rechts dann entgegenzukommen?

Hashtag oder Titel zum Ausleihen?
Kippenbergers und die Titelprosa der FHS ist eigentümlich aktuell, denken wir sie als Umgang mit Text, wie sie in den sogenannten sozialen Netzwerken Praxis ist: Lässt sich nicht z. B. jeder Hashtag auch als Titel lesen? Sind Hashtags nicht auch «Titel zum Ausleihen»? Schließlich geht es nicht nur darum, permanent neue zu erfinden, sondern auch, einen Hashtag möglichst so zu formulieren, dass er sich dadurch weiterverbreitet, dass andere ihn für sich verwenden.

Der Text wirft den Blick auf den Ursprung des Theaters: Dorthin, wo Theater ein Ort des Ausprobierens und Spielens ist. Er zelebriert die Unvernunft als Spielform des freiheitlichen Denkens. Zeigt, dass es anders geht. Dass Abweichung möglich und Widerstand gewollt ist. Als eine Art Textgenerator ist der Text im ursprünglichen Sinne nämlich sehr wohl ein dramatischer Text, weil er im schöpferischen Dazwischen zuhause ist. Wie auch die Arbeiten der FHS von Interventionen über Performances bis hin zu Videoarbeiten und Installationen reichen. Erst im Gefüge der verschiedenen künstlerischen Disziplinen wird deutlich, dass es keine Eindeutigkeiten gibt, sie sogar strikt verweigert werden. Der Text ist ein Potpourri künstlerischen Ausdrucks und unternimmt den Versuch in Textform zu gießen, was die Gruppe bis dato an künstlerischen Einmischungen unternommen hat. Damit knüpft sie an Martin Kippenberger an, der seine Produktion ja auch in herrlicher Unordnung auf verschiedene Gattungen verteilt hat. Wie Kippenberger fängt die FHS in ihrem Text Alltagsmomente, Stammtischparolen, logische und unlogische Fallen, invertierte Witze und streams of beschädigter consciousness bei aller Verspieltheit als ernsthafte Versuche ein, ihr literarisches Format selbst zu definieren.

Vielleicht kommt man diesem Titeltext überhaupt nur bei, wenn man die FHS als radikale Kunstarbeiter:innen begreift, wenn man jede ihrer bisherigen Arbeiten in die Textanalyse einbezieht und verstehen lernt, dass die Gruppe sich künstlerisch nicht versteifen will, dass sie alle Schwesternkünste interessieren und dass hier keine Disziplin im Schatten einer anderen steht. Vielmehr die Kunstform sich aus dem Inhalt ergibt. War das nicht auch die Arbeitsweise von Martin Kippenberger, auf den sich die FHS bezieht?

Es scheint, dass die Bildende Kunst als einheitliche Disziplin Künstler:innen wie Kippenberger oder eben der FHS nicht ausreicht. Sie schwanken absichtlich zwischen ostentativ eingenommenen, sich aber im gleichen Augenblick zur Disposition stellenden Posen. Und in ihrer Suche nach dem eigenen Sound stellen sie fest, dass ihnen die Sprache nicht gehört. Dass jede Sprache eine Fremdsprache ist. Die ist manchmal prä- oder postpubertär, manchmal derb und brutal, mitunter kränkend. Gleichzeitig ist sie schelmisch, widersprüchlich und oft irrsinnig komisch. Man muss diese Titeldramatik der FHS als Umgang mit Text denken, wie er momentan bei Memes, Tweets und Captions und damit auf Plattformen wie Instagram, Bluesky und X vorkommt. Das Populäre und Subpopuläre wird hier umarmt. Und der Boulevard verstrickt sich gern in Widersprüche: Nicht eine der potenten Behauptungen überlebt die nächste Zeile ohne sich selbst zu wideroder zu zerlegen. Jede Überdeutlichkeit ist willkommen. Eindeutige Lesbarkeit wird vor die Tür gesetzt.

Im Übrigen soll hier natürlich auch nicht der augenzwinkernde Eigenname der Frankfurter Hauptschule vergessen werden: Damit beziehen sich die Künstler:innen einerseits auf die aufklärerische Tradition der Frankfurter Schule, die mit Adorno und Horkheimer an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main ihren Anfang nahm. Andererseits könnte es auch ein ironischer Kommentar zu den unter öffentlichem Dauerbeschuss stehenden Frankfurter Hauptschulen sein, die zwar street credibility, aber kaum Leistung vorzeigen können. Hauptschule heißt Regelschule, heißt im Klartext «Restschule». Der Name der Gruppe selbst ist Programm.

Die Geister drehen im guten Sinne frei. Sie entwinden sich einem Vernunftregime, bis der Unernst eine lösende Kraft entfacht. «2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger» ist deshalb so gut, weil es die Idee des absichtslosen Herumspinnens feiert, weil es zweckfrei ist, garantiert ziellos. In einer Zeit, in der es schlecht um die Kunstfreiheit steht, weil nämlich der Diskurs keine Fantasie mag, hat die FHS einen Text geschrieben, dessen Kraft nicht auf Anpassung zielt, nicht auf Gewalt, sondern aufs freie Spiel freier Menschen.

JULIA WEINREICH ist Lektorin beim Theaterverlag Henschel Schauspiel


Theater heute Juni 2025
Rubrik: Das Stück, Seite 43
von Julia Weinreich

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