Abschied von der Geschichte

Mit Heiner Müller und Dimiter Gotscheff verschwindet die Universalgeschichte vom Theater. Was kommt danach? Theaterwissenschaftliche Geschichtsstudien schauen zurück und nach vorn

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Ganz eng ist es geworden auf dem Marktplatz. Bauern und Kosaken kesseln Badjin, den Vorsitzenden des Exekutivkomitees, sowie Borschtschi, den Bezirks-Sekretär, der ihn begleitet, ein. Dass Badjin den verhassten Chef der Bezirksmiliz Saltanow hat verhaften lassen, lässt die Menge erstarren. Es ist ihr Triumph. Aus den hinteren Reihen hört man Gesang: «Aufgeplustert war das Küken / Auf dem Platz ist es spaziert / Dort hat man es arretiert.» Die Menge ist in Aufruhr, zu allem bereit, sie «atmet ein».

Dann verkündet ihr Badjin, dass die zusätzliche Steuer, die Abgabe für die Verteidigung, nicht mehr verlangt wird. Die Menge atmet aus und verschwindet. Mit jedem weiteren Satz Badjins löst sie sich nun weiter auf. Am Ende bleibt nur ein betrunkener Kosak übrig, der, als er das Lied der rebellierenden Menge erneut anstimmt und vor den zwei Funktionären tanzt, von Borschtschi verscheucht wird. Er verliert das Gleich­gewicht, fällt um, kriecht von der Bühne. In diesem Moment erfährt Borschtschi von Badjin, dass es «keine Revolution mehr in Deutschland» gibt. Es folgt «langes Schweigen».

So stellt Heiner Müller in «Die Bauern», der vielleicht eindrücklichsten, sicher aber dichtesten Szene ...

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Theater heute Mai 2014
Rubrik: Theorie, Seite 40
von Nikolaus Müller-Schöll

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