Todestrieb und Dekolonisation
Der Starez Sossima, der heilige Mönch, liegt halb erhöht im offenen Sarg wie Holbeins Christus, ausgestellt als Wundertäter, und stinkt. Statt des erwarteten Wunders ereignet sich Fäulnis, und in einer grotesken Choreografie versuchen die Trauergäste und Jünger, mit angehaltenem Atem dem Kadaver gegenüber Haltung zu bewahren. Noch ein paar würdevolle Worte, bis endlich einer das Fenster aufreißt.
Sylvain Creuzevault inszeniert im Pariser Théâtre de l’Odéon Dostojewskis «Brüder Karamasow», es ist ein grauslicher Genuss.
Der Regisseur hat einen ausgeprägten Sinn für das Absurde, die Komik in der Maßlosigkeit, die Farce im Todestrieb, aber natürlich auch das soziale und politische Trauma der unheiligen Familie. Die ja bei Karamasows zunächst einmal durch die Abwesenheit von Müttern auffällt, nebenbei bemerkt. Creuzevault hat Erfahrung mit Dostojewski, er hat mit seiner Compagnie Le Singe schon eine vielbeachtete Adaption der «Dämonen» herausgebracht, «Les Démons», dann «Ein grüner Junge» («Scènes d’ado -lescent»), «Le Grand Inquisiteur», und jetzt eben «Les Frères Karamazov», ohne die Legende vom Großinquisitor noch mal aufzunehmen. Aber auch schon mal «Das Kapital» von Karl Marx, «Le ...
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Theater heute Juni 2023
Rubrik: International, Seite 47
von Andreas Klaeui
Das Musical «Cabaret» passt trefflich in den berlin-babylonischen Hype, der vom deutschen Film längst in die Theater geschwappt ist. Und natürlich auch dank seiner Hits ist das Stück ein Garant für volle Häuser. So auch jetzt am Stuttgarter Schauspiel, das mit Calixto Bieito einen Regisseur engagiert hat, der sich auskennt in der auch hintergründigen Thematisierung...
Aus diesem Grab, das ihr Leben ist, kommt Marie nicht mehr heraus. Anfangs lässt sie den Grubensand noch sanft durch die Finger rieseln. Dann versucht sie, sich an den Wänden hochzuziehen, immer wieder, doch der Staub hat sie glatt und unüberwindlich gemacht. Nur Woyzeck schafft es aus dem Erdloch (Bühne Julia Nussbaumer) zum klinisch weißen Haus hinauf, neonkalt...
In Karin Beiers Inszenierung von Elfriede Jelineks großer Abrechnung mit der Pandemie – oder vielmehr: mit uns Menschen, uns als Gesellschaft in der Pandemie –, in «Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!» also gibt es einen Moment, in dem die Schauspielerin Julia Wieninger aus allen Rollen zu fallen scheint. Bis zu diesem Punkt sah sie wie ihre fabelhaften Kolleginnen...