Nicht aufgeben

Gedanken zur erneuten Wahl von Recep Tayyip Erdogan zum türkischen Präsidenten

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Als politischer Mensch trifft mich diese Wahl schwer. Ich denke, wenn nicht jetzt schon die Zeiten für die Opposition düster waren, dann wird sie definitiv in den kommenden Jahren noch finsterer. Ein Exodus steht dem Land bevor. Die inhaftierten oppositionellen Stimmen werden in den Gefängnissen bleiben, ohne einen Prozess. Die ethnischen Minderheiten, Kurden, Armenier, Aleviten, die Andersdenkenden: Politiker, Journalisten, Akademiker, Künstler, Queere und in der Ost-Türkei festsitzende Flüchtlinge. Alle werden die Chance jetzt nutzen und der Türkei den Rücken kehren.

Denn schon in der ersten Rede des Präsidenten, in der Wahlnacht, wurde klar: Dieser Präsident will nicht der Präsident aller Menschen in der Türkei sein. Sondern nur derer, die ihn gewählt haben. Für den Rest? Passt euch an oder schert euch zum Teufel!

Ich habe ehrlich bis zuletzt gehofft, dass es einen Wechsel geben würde. Und natürlich bin ich mit meinen ganzen Freunden und meiner Familie sehr enttäuscht, um nicht zu sagen: am Boden zerstört. Wir haben es nicht geschafft, weil in der gesamten türkischen Gesellschaft eine Art Resignation, eine Mutlosigkeit herrscht. Wirklich bis in alle Ecken und Winkel des Landes.

Die Opposition stand auf zu vielen Füßen und sich selbst im Weg. Den Rest hat der Präsident erledigt, indem er alle Ressourcen eines Wahlkampfs für sich behielt und die Opposition austrocknen ließ. Letzten Endes hat es vielleicht auch an einer charismatischen Figur gefehlt. Und da muss man natürlich sagen, dass der Präsident auch über einen Nimbus verfügt und über eine Erzählung, die viele Menschen in den letzten 20 Jahren geprägt und ihnen Halt gegeben hat. Nur in ihm sahen sie jemanden, der sie angesichts der vielen Schicksalsschläge, die das Land erlitten hat, wieder aufrichten kann. Das alles mag dafür sprechen, dass in der Türkei der Präsident mit knapper Mehrheit wieder gewählt wurde.

Aber was ist mit der deutsch-türkischen Community hier in Deutschland?! Die mit fast 70 Prozent, einem um 20 Prozent höheren Prozentsatz als in der Türkei, dem Präsidenten ihre Stimme gab? Wir hatten hier kein Erdbeben. Kein Oppositioneller muss hier ins Gefängnis, wir können frei sprechen, die Medien, die Kunst sind frei, queere Menschen, wenn auch nicht weitgehend in der Gesellschaft akzeptiert, werden vom Grundgesetz geschützt.

Auch wenn ich als politischer Mensch, als Aktivist die Wahl verurteile und mit ihr nicht einverstanden bin, kann ich mir als Künstler nur diesen «einen» Standpunkt nicht leisten. Ich will dahinterkommen. Ich muss durchleuchten, warum die tektonischen Platten in Deutschland zwischen uns und der deutsch-türkischen Community so weit auseinanderdriften?!

Mit Hilfe der Soziologie können wir uns einer Erklärung nähern: Die türkische Community in Deutschland sei von Anfang an sehr religiös gewesen, sie sei aus dem ländlichen Raum der Türkei gekommen. Das ist die halbe Wahrheit. Zur Wahrheit hier gehört auch: In keinem anderen europäischen Land ist in den letzten 60 Jahren so sehr gegen die türkische Minderheit gewütet worden wie in Deutschland. Man muss nur an die Brandanschläge in Mölln, Solingen, Lübeck denken, an Hanau und auch an die NSU-Mordserie. Auch Türkinnen und Türken in der dritten, vierten Generation, die hier geboren sind und leben, haben den Präsidenten gewählt. Sie sind gut ausgebildet, leben alle Vorzüge einer freiheitlichen Welt und lehnen im gleichen Atemzug die deutsche Staatsbürgerschaft ab. Sie sehen, was ihren Geschwistern, ihren Eltern, Groß- und Urgroßeltern in den letzten 60 Jahren in Deutschland angetan wurde. Auch ich habe natürlich Freunde in meiner deutsch-türkischen Community, die Erdogan gewählt haben. Als politischer Mensch ver -stehe ich sie nicht, aber als Künstler spüre ich, dass sie wirklich eine kollektive Katastrophe hinter sich haben. Ein kollektives Trauma. Das mittlerweile mehrere Generationen hier in Deutschland geprägt hat: Viele deutsch-türkische Mitbürger, also türkischstämmige deutsche Mitbürger, sehen sich bis heute als Freiwild. Ungeschützt. Nicht akzepiert, ausgegrenzt. Diskriminiert. Bekämpft. Verbannt. Erschossen. Und dann: allein gelassen.

Und ich spüre, dass sie all das vom türkischen Präsidenten bekommen, was ihnen hier fehlt. In ihm sehen sie jemanden, der ihre Rechte schützt, sie verteidigt, an sie glaubt, mitfühlt. Diese Erzählung zu durchbrechen ist uns in den letzten 60 Jahren hier nicht gelungen. Umso größer die Notwendigkeit, weitere Brücken zwischen diesen auseinanderdriftenden tek -tonischen Platten zu schlagen. Weitermachen … immer weitermachen … weiter – nicht auf -geben! Wenn es eine Sache gibt, die ich aus der Begegnung mit Dogan Akhanli mitgenommen habe, dann ist es dies: Die Kunst ist der Weiß-Helm, um den Mensch, der verschütt gegangen ist durch ideologische, politische, ethnische Kämpfe, auch wenn er unser Gegner ist, zu suchen, zu finden und wieder freizulegen. Den Mensch, sein Gegenüber, nicht aufzugeben. Um ihn dann mit seinen eigenen Widersprüchen zu konfrontieren.

Die Lage wird sich verschärfen. Wir dürfen den Blick nicht abwenden.


Theater heute Juli 2023
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Nuran David Calis

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