Gemeinsames Erleben stiften

Ein Gespräch mit dem noch stellvertretenden Ministerpräsidenten in Thüringen, Bernhard Stengele

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Bernhard Stengele kommt vom Theater und war von 2012 bis 2017 Schauspielspieldirektor in Altenburg/Gera. Das Mitglied der Grünen wurde ab 2020 Landessprecher der Partei in Thüringen und nach einem Personalwechsel im Februar 2023 Umweltminister und stell -vertretender Ministerpräsident in Thüringen, worüber er in «Theater heute» 10/23 ausführlich gesprochen hat. Grund genug für eine Anknüpfung nach der Landtagswahl 2024.



Franz Wille Herr Minister Stengele, Grüne und FDP sind nach der Wahl nicht mehr im Landtag vertreten, die Linke von Ministerpräsident Bodo Ramelow hat massiv verloren, die in Thüringen gesichert rechtsextreme AfD ist mit 32,8 Prozent die stärkste Fraktion. Wie zuversichtlich sind Sie, dass es trotzdem gelingt, ohne Björn Höcke und die AfD eine stabile Regierung zu bilden? 
Bernhard Stengele An der AfD vorbei zu regieren, dürfte in der kommenden Legislatur schwer möglich sein. Eine Regierungsbildung ohne AfD kann und muss zwar gelingen, aber die AfD wird trotzdem eine Sperrminorität halten, und es wird immer wieder Entscheidungen geben, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig sein wird – und diese Mehrheit ist ohne die AfD nicht mehr zu erzielen. Ein anderer Punkt: Der Alterspräsident des neuen Landtags wird von der AfD gestellt werden, und dieser leitet die erste Sitzung und damit die Wahl zur Landtagspräsidentin oder zum Landtagspräsidenten. Schon da kann die AfD jede Menge Sand ins Getriebe streuen und den Landtag an die Grenze der Arbeitsfähigkeit bringen – und das ist ja das Ziel der AfD. Ob und wie es gelingen kann, dass ein Landtagspräsident nicht von der AfD kommt, ist nur ein erstes Detail, kann aber schon in der ersten Sitzung zu einer Totalblockade des Landtags führen. Im Übrigen: Eine wirklich stabile Regierung kann es derzeit ohnehin nicht geben wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU mit der Linken. Ohne Stimmen von dort ist aber keine Mehrheit diesseits der AfD möglich. 

FW Was könnte, wenn es doch gelingt, eine Regierung ohne die AfD zu bilden, diese Partei gerade im Kunst- und Kulturbereich trotzdem für Schaden anrichten? 
Stengele Die bisherige rot-rot-grüne Regierung hat es tatsächlich geschafft, alle Stadtund Staatstheater langfristig – bis Ende der Spielzeit 2029/2030 mit Verlängerungsoption – zu finanzieren. Da gibt es feste Verträge. Deshalb wird es hier auch keine plötzlich bedrohliche Situation geben. Bei der Freien Szene sieht es anders aus: Auch dort gibt es einige institutionelle Förderungen, aber das Meiste sind freie Gelder, die Jahr für Jahr vergeben und entsprechend gekürzt werden können. Vor allem in der CDU gibt es Leute, die eher mit der AfD zusammenarbeiten wollen als mit BSW oder der Linken. Bei BSW wissen wir bislang überhaupt nicht, wie sie sich zur Kultur stellen. Was Sahra Wagenknecht dann bei «Lanz» dazu verkünden wird, wissen wir noch nicht. Und was die Kulturpolitik der AfD betrifft: Da sie von der Kultur in aller Regel nicht besonders geliebt wird, liebt sie die Kultur auch nicht – speziell, wenn es eine weltoffene Kultur ist. Also werden sie versuchen, alle freien Gelder dafür zu streichen. Und dafür könnte es den einen oder anderen Mitstreiter geben.

FW Stichwort Mitstreiter: Es gibt ja auch einen gewissen vorauseilenden Gehorsam anderer Parteien der AfD gegenüber gerade auf kommunaler Ebene, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das lässt sich schon auf Bundesebene in Sachen Migration beobachten. 
Stengele Hinzu kommt, dass die AfD in den Kommunen oft die Mehrheit im Stadtrat hat oder knapp an der Mehrheit kratzt. Und ich schätze, dass dort dann an den freiwilligen Leistungen – vieles in der Kultur gehört dazu – angesetzt wird. 

FW Sie haben schon vor einem Jahr gesagt, dass Sie nicht an ihrem politischen Amt kleben. Jetzt könnte es für Sie als Minister bald vorbei sein. Was nehmen Sie aus ihrem Ausflug in die Politik mit? 
Stengele Das Eine ist die wertvolle Erfahrung, dass man für ein Ministeramt gut gerüstet ist, wenn man vorher in verantwortlicher Position in einem Theater gearbeitet hat. Die Leute waren verblüfft, wie schnell ich mich in die Verwal -tungsstrukturen eingearbeitet habe. Ich weiß, wie kompliziert Tarifverträge, wie komplex Verwaltungsvorgänge sind und wie man Teams bildet. Innerministeriell habe ich mir da in der kurzen Zeit einen ganz guten Ruf erworben. 

FW Und das Andere? 
Stengele Gerade findet ein echter Epochenbruch statt, mit einer überall sichtbaren Regressionsphase, in der die Leute nicht mehr hören wollen, was ist, sondern zurück in Zeiten wollen, in denen man unsere Probleme nicht kannte. Ich kann mit vielen Leuten nur noch schwer reden, wenn sie an Retro-Märchen glauben. Für die Kultur als ein stiftendes Element für gemeinsames Erleben ist das eine große Herausforderung. Wir sind als Gesellschaft gerade mächtig unter Druck durch Erzählungen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Deshalb kann gerade die Kultur diese vergifteten Mythen bis «zur Kenntlichkeit entstellen».


Theater heute Oktober 2024
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Franz Wille

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