Rafaele Giovanola «Choreia – ein Polyballett»
Zu Beginn schleicht sich in der Dunkelheit ein vielstimmiges Summen ans Ohr. Dann ein Knarren, Quietschen, Klappern. Man erkennt Silhouetten stehender Personen in den Zuschauerreihen, es ist ein bisschen unheimlich. Endlich: ein Lichtschein auf der Bühne, die Schattenrisse einer Tänzerin, die stehend asymmetrische, erratische Bewegungen ausführt. Jetzt hört man Ächzen und Stöhnen, es jammert und faucht, es plätschert. Schließt man die Augen, wähnt man sich im Urwald. Und allmählich kriechen weitere sieben Personen auf die Bühne.
Die Deutschlandpremiere von «Choreia – ein PolyBallett» im Düsseldorfer tanzhaus nrw beweist einmal mehr, wie eigen, kreativ und konsequent die Choreografin Rafaële Giovanola und ihr Ensemble CocoonDance arbeiten. Seit 2016 hat sich die Compagnie der Denkfigur des «ungedachten Körpers» verschrieben. Was diese genuine Choreografin an Kunstleibern so entstehen lässt – Figuren zwischen Mensch und Insekt, Pflanze, Avatar oder Maschine – grenzt bisweilen an Magie: Wesen, die sich bewegen, wie man es nie sah. Diesmal hat die Schweizerin den Leib um das «Körperteil» Stimme erweitert. Auch wenn es rein physisch keinen Kontakt zu den Zuschauerinnen gibt, wird deutlich, wie sich die Tänzer*innen mit Mikroports über die Laute, Klänge, Gesänge verbinden. Wenn man so will, dient die Atemluft als Bindeglied, darüber legt ein DJ seinen Soundteppich.
In ihren zeitlos grauen Röcken und diversen, kurzen Oberteilen zwischen Weste und Jäckchen reisen die acht Individualist*innen durch die Jahrhunderte – tänzerisch und akustisch. Man staunt über den choreografischen Einfallsreichtum, über flinke, abgewinkelte Beinschläge bis knapp vor die Stirn, gebrochene Wellen-Formationen, rhythmisierte Zuckungen. Währenddessen stellen Details historische Bezüge her, darunter Manschetten am Handgelenk, am Hals oder um das Schultergelenk. Mal denkt man atmosphärisch ans Elisabethanische Zeitalter, mal an mittelalterliche Klöster, mal an «Harry Potter». Die Performer*innen stampfen archaisch wie Urmenschen, bilden zeitlose Formationen, verlieren sich in Veitstanz, verfallen in eine Hip-Hop-Sequenz. Schließlich aber finden sie zu einer Gemeinschaft in einem antiken Kreistanz, der sich in einen Rausch hineinsteigert. Sein Name: Choreia.
Am Ende steht das Oktett aufgereiht vor dem Publikum und sucht den Blickkontakt. Immer wieder stoßen die Tänzer*innen einen Vokal aus: A, A, A. Dann verstummen sie, und aus dem Publikum heraus nimmt ein kleiner, kaum hörbarer Chor den Laut auf: finale Kontaktaufnahme gelungen. Ein Prozess ist vollendet. So enthält die gemeinschaftsstiftende Performance auch eine politische Botschaft: Steht zusammen! Das glückliche Lachen des ineinander verschlungenen Ensembles, das sich in die Dunkelheit zurückzieht, spricht Bände.
Wieder Münster, Theater im Pumpenhaus, 12., 13. Sept.;
Mülheim/Ruhr, Ringlokschuppen, 26., 27. Sept.;
Krefeld, Fabrik Heeder, 28. Sept. sowie im Rahmen der «Regensburger Tanztage», Theater an der Uni, 26. Nov.;
www.cocoondance.net
Tanz August/September 2025
Rubrik: Kalender, Seite 40
von Bettina Trouwborst
Er liebt Quentin Tarantino, sie Filme aus dem «Disney»-Kosmos. Er isst am liebsten Hase, sie könnte sich von Eiscreme ernähren. Er möchte gerne Klavier lernen und interessiert sich brennend für Physik. Sie ist eine passionierte Handarbeiterin, «weil ich da am besten nachdenken, entspannen kann – wo wir sonst eigentlich immer auf Adrenalin sind». Seine wichtigste Lektüre war «O Segredo de...
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