Ich tanze, also bin ich
Weiße Turnschuhe schnurren über ein Autodach, samtweich wie Katzenpfoten und angriffslustig nach Art eines Dschungeltigers. Ringsum ducken sich Vorstadthäuser in akkurat getrimmte Rasenflächen. Gleichwohl ist der Reichtum hier nicht zu Hause. Das verrät ein Kameraschwenk über farbrissige Fassaden und verschlissene Fenster. Der Mann auf dem Autodach ist ganz in der Nähe groß geworden, in den Ausläufern von Memphis, Tennessee. Dort hat er tanzen gelernt und darüber bald alles andere vergessen.
«Street Dance», sagt er, «kommt aus dem Ghetto und ist eine Kunst, die aus dem Nichts entsteht. Oder besser noch: aus dem Schmerz.» Davon gab es mehr als genug in seiner Kindheit.
Ein gewalttätiger Vater, Rassismus und Brutalität gehören zum Alltag. Irgendwann zieht die Mutter acht Kinder alleine groß. Der Zweitgeborene ist ein Sturkopf, bohrt sich Spin um Spin in die Bewegungsmatrix des Jookin hinein, eine der zahllosen Break-Varianten, eher smooth und robot-artistisch getönt als auf Attacke gebürstet. Seine Begabung fällt in Profikreisen auf, er bekommt ein Stipendium und zwei Jahre Ballettunterricht: «einzige Bedingung: ohne Strumpfhosen», erinnert sich die Ex-Lehrerin. Schließlich kommt er ...
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Tanz Februar 2021
Rubrik: Produktionen, Seite 12
von Dorion Weickmann
Ist es möglich, nur per Fernschalte eine Oper sowohl zu inszenieren als auch zu choreografieren? Lucinda Childs hätte an der Opéra Nice Côte d’Azur Philip Glass’ monumentalen «Akhnaten» inszenieren sollen. Sie tat es von New York aus, am Bildschirm – und allein für den Bildschirm. Bisher. Das Experiment geschah auf Vorschlag von Bertrand Rossi, dem neuen...
Wie zerbrechlich sind Selbstverständlichkeiten! Die Verbreitung von COVID-19 und die dagegen verordneten Maßnahmen wie social und physical distancing haben uns die Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen ins Bewusstsein gerufen. Ihr Zerfall würde den gesellschaftlichen Zusammenbruch bedeuten. Verändert sich eine Gesellschaft, verschieben sich auch die Grenzen...
«Heute früh stand ich auf meinem Balkon», erzählt Antoine Jully mit dem charmanten, überakzentuierten Englisch des französischen Muttersprachlers. «Und ich fragte mich: Werden wir wohl über Konservatismus reden oder nicht?» Der Konservatismus treibt den Choreografen um, so sehr, dass er sich schon vor dem Interview sorgt, ob das wohl ein Thema wird. Klar: Als Jully...