Ich tanze, also bin ich
Weiße Turnschuhe schnurren über ein Autodach, samtweich wie Katzenpfoten und angriffslustig nach Art eines Dschungeltigers. Ringsum ducken sich Vorstadthäuser in akkurat getrimmte Rasenflächen. Gleichwohl ist der Reichtum hier nicht zu Hause. Das verrät ein Kameraschwenk über farbrissige Fassaden und verschlissene Fenster. Der Mann auf dem Autodach ist ganz in der Nähe groß geworden, in den Ausläufern von Memphis, Tennessee. Dort hat er tanzen gelernt und darüber bald alles andere vergessen.
«Street Dance», sagt er, «kommt aus dem Ghetto und ist eine Kunst, die aus dem Nichts entsteht. Oder besser noch: aus dem Schmerz.» Davon gab es mehr als genug in seiner Kindheit.
Ein gewalttätiger Vater, Rassismus und Brutalität gehören zum Alltag. Irgendwann zieht die Mutter acht Kinder alleine groß. Der Zweitgeborene ist ein Sturkopf, bohrt sich Spin um Spin in die Bewegungsmatrix des Jookin hinein, eine der zahllosen Break-Varianten, eher smooth und robot-artistisch getönt als auf Attacke gebürstet. Seine Begabung fällt in Profikreisen auf, er bekommt ein Stipendium und zwei Jahre Ballettunterricht: «einzige Bedingung: ohne Strumpfhosen», erinnert sich die Ex-Lehrerin. Schließlich kommt er ...
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Tanz Februar 2021
Rubrik: Produktionen, Seite 12
von Dorion Weickmann
Tamara Rojo, Künstlerische Direktorin des English National Ballet (ENB) in London, hat für gewöhnlich ein gutes Händchen für alles, was Publikum zieht und die Kunst ziert. Couragiert hat sie ihr Ensemble durch den ersten Lockdown gebracht, der in England endlos schien – nicht zuletzt indem sie Trainings aus ihrer eigenen Küche streamte. Das erwies sich als Renner,...
«Heute früh stand ich auf meinem Balkon», erzählt Antoine Jully mit dem charmanten, überakzentuierten Englisch des französischen Muttersprachlers. «Und ich fragte mich: Werden wir wohl über Konservatismus reden oder nicht?» Der Konservatismus treibt den Choreografen um, so sehr, dass er sich schon vor dem Interview sorgt, ob das wohl ein Thema wird. Klar: Als Jully...
Giselle, da steht sie, bildschön, vor dem Vorhang, Grabblumen zu Füßen, ein trauernder Albrecht spielt die Klarinette. Ihr Gesicht glänzt wachsweich. Ihren Kopf hält sie nach hinten gebeugt, den Mund leicht geöffnet. Ein weißes Laken spannt sich über ihren atemlosen Körper. Eine Puppe, eine Schaufensterpuppe, das denken alle im modernen Bau der Teatros del Canal in...
