Tanztee im Hotel Adlon, Berlin; Foto: Marion Borriss

Vom Führen und Folgen

Leader und Follower haben Herrn und Dame verdrängt. Aber immer noch gilt: Auf dem Parkett zeigt sich, wie gut ein Paar miteinander kann

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«Rockstep, Triple Step, Walk, Walk, Triple Step» schallt es durch den Raum. Zehn Tanzpaare versuchen sich, angeleitet von Tanzlehrer Sasha, am Swing Out. Was bei Sasha und seiner Tanzpartnerin so simpel aussieht, ist erwartungsgemäß für die Anfängertruppe, die sich hier versammelt hat, gar nicht so einfach – vor allem nicht für die Führenden, im internationalen Swing-Jargon «Leader» genannt.

Rückwärts- und, Wechselschritt, dabei den Tanzpartner von der Seite entlassen und in den Raum schicken, um ihn anschließend wieder zurückzuholen – der Swing Out ist eine 8count-Basisfigur des Lindy Hop, einer besonders herausfordernden Spielart der Swingtänze, die seit Jahren in den europäischen Hauptstädten wieder sehr in Mode sind. Entstanden ist der Lindy, wie die Szene ihn gerne verkürzt nennt, Ende der 1920er- Jahre zur Musik der Big Bands in den großen Tanzsälen Harlems. Dort trafen sich – ungeachtet ihrer Herkunft und Hautfarbe – alle Bevölkerungsschichten und viele Tänzer verschiedenster Provenienz. Vielleicht liegt es an diesem Ursprung, dass es auch in den aktuellen Lindy Hop- und fast allen anderen ­Swing-Klassen ein bisschen unkonventioneller zugeht als bei anderen Gesellschaftstanzformen. Das fängt schon bei den Schuhen an: Der wilde, raumgreifende und im besten Fall comedyhafte Lindy Hop erfordert kein besonderes Schuhwerk, schon gar keine hohen Schuhe für die Damen, sondern wird im Gegenteil von allen Beteiligten mit flachen Schuhen und gerne in weichen Sneakers getanzt. In die Klassen, aber auch zum abendlichen Social Dance in verschiedenen Clubs oder Tanzschulen muss man nicht mit festem Tanzpartner kommen. Vom ersten Tag an wird in allen Swing-Klassen der Partner nach kurzer Übungssequenz unaufhörlich gewechselt, denn die Fähigkeit, sich auf immer wieder neue Gegenüber einstellen zu können, gehört zu den Grundvoraussetzungen des Swing-­Tanzens. Das Auffälligste ist allerdings der Sprachgebrauch: Schon lange ist im ­Swing nicht mehr von «Dame» oder «Herr» die Rede – die Begriffe «leader» und «follower», «Führende» und «Folgende», geben schon verbal den Weg frei für den geschlechterneutralen Rollenwechsel.

Kategorischer Imperativ

Im Gegensatz zur sehr beweglichen Swingtanz-Szene geht es bei den Standard- und Lateinamerikanischen Tänzen noch etwas klassischer zu, aber auch hier ist einiges in Bewegung geraten. Die Tanzschule Walzerlinksgestrickt in Berlin-Kreuzberg vermittelt seit 20 Jahren Gesellschaftstänze jenseits erstarrter Konventionen. Hier tanzen – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung – gemischt- und gleichgeschlechtliche Paare Langsamen und Wiener Walzer, versuchen sich absolute Anfänger an Discofox, Boogie, Foxtrott, Cha-Cha-Cha und Rumba, während in den anderen Sälen Fortgeschrittene neue Schritte für ihre Salsa-Partys oder schwierige Tango-Figuren für die Milongas lernen. Hier unterrichten auch Tobias Wozniak, Enrica Steden und Gerd Theerkorn. Letzterer antwortet auf die Frage nach der Rollenverteilung und dem Verhaltenskodex in den Gesellschaftstänzen: «Wir vermitteln Tanzschritte, keine Etikette.» Der Regelkodex früherer Zeiten hat längst seine Gültigkeit verloren, nicht nur in den Tanzschulen, auch auf den kleineren oder größeren Bällen. Kein Mann muss mehr eine Dame vor dem Tanz vom Platz abholen oder danach wieder zurückbringen, und selbstverständlich fragt man heute die Dame und nicht ihren Begleiter, ob sie tanzen möchte. Und wird umgekehrt eben auch von den Damen gefragt. Dennoch gibt es Verhaltensregeln, die den allgemeinen Vorstellungen von Höflichkeit entsprechen. Dazu zählt: Niemals den Tanzpartner einfach auf der Tanzfläche stehen lassen, und wenn man mit mehreren Paaren am Tisch sitzt, sollte jeder einmal mit jedem getanzt haben. «Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden willst», diese schlichte Devise macht sich laut Gerd Theerkorn nicht nur im Leben, sondern auch auf der Tanzfläche und im Ballsaal gut. Im Tanzsport dagegen wird es naturgemäß mit der Etikette sehr viel strenger genommen, meint Tobias Wozniak, selbst langjähriger Turniertänzer. Auf den Turnieren müssen nicht nur Schritte und Schwünge, sondern auch Körperhaltung, Kostüm und Lächeln bis ins Kleinste sitzen.

Spiegel der Paarbeziehung

Wer einmal in die Turnier- und Sportordnung des Deutschen Tanzsportverbandes geschaut hat, weiß, warum Standardtänze so genannt werden. Hier werden nicht nur Bewertungskriterien, Ranglistensysteme, Startklassen und Punktevergabe, sondern auch vom Schnitt des Höschens der Frau bis zur Farbe der Socken bei den Männern alle Details der Kleidung geregelt. Undenkbar, dass auf gemischtgeschlechtlichen Turnieren – anders als bei gleichgeschlechtlichen – Dame und Herr einmal die führende und folgende Rolle wechseln.  Doch auch in der Standard- und Latein-Laientanzszene führen noch immer überwiegend Männer Frauen. Das allerdings ist nicht nur den Konventionen geschuldet, sondern hat auch praktische Gründe. Der Führende muss die Übersicht über die Tanzfläche behalten, und das ist für den größeren Partner schlichtweg einfacher. Ohnehin ist das mit dem Führen und Folgen so eine Sache. Gerd Theerkorn vergleicht das Tanzen ganz unromantisch mit dem Autofahren: Es kann nur einen Fahrer geben.

Gleichzeitig aber funktioniert kein Paartanz, ohne dass beide Seiten sich einig werden und für die Zeit des gemeinsamen Tanzens ganz ihren Aufgaben widmen. Der Führende sollte im Idealfall schon drei Schritte vorher wissen, was kommt. Er muss nicht nur seine eigenen und die Bewegungen der Partnerin steuern, sondern auch durch die Menge der tanzenden Paare hindurchmanövrieren, sprich: höchst aufmerksam sein. Gerade dieses «vorausschauende Tanzen» macht die Rolle für Anfänger besonders schwer, weiß Gerd Theerkorn. Besonders in den Anfängerklassen straucheln die Herren häufig über diese Verantwortung. Auch wenn er als Lehrender nicht immer weiß, in welchem privatem Verhältnis die Paare stehen, die in seine Klassen kommen, verdichtet sich der Eindruck: «Sie organisiert das Leben, er soll nun das Tanzen organisieren.» Das ist für viele Männer ungewohnt, und häufig bekommen sie zudem von ihren Tanzpartnerinnen in den ersten Unterrichtsstunden noch viele gut gemeinte, aber auch besserwisserische Ratschläge oder sogar Vorwürfe. Dabei sei es doch die Aufgabe des (oder eben in den meisten Fällen der) Geführten, die Aktion abzuwarten und die Kontrolle abzugeben. Was den meisten Frauen heute ebenfalls nicht ganz leichtfällt. Der Paartanz ist eben immer auch Spiegel der Paarbeziehung, im besten Falle «beziehungsstählend», wie Gerd Theerkorn einen erfolgreichen Tanzschüler zitiert. Genau diese Verbindung von tanztechnischen und zwischenmenschlichen Interaktionen macht es für ihn als Tanzlehrer auch nach vielen Jahren noch spannend, blutige Anfänger zu unterrichten.

It takes two to tango

Auch Enrica Steden bestätigt, dass sie als Lehrende tiefe Einblicke in Paarbeziehungen und ihren Umgang mit Konflikten bekommt. Die kleine, hochenergetische Tango-Lehrerin beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren intensiv mit diesem Tanz und hat viele Jahre eng mit Juan D. Lange zusammengearbeitet, jenem Pionier, der die deutsche Tangobewegung der 1980er-Jahre ausgelöst hat. Sie weiß alles über die Geschichte des argentinischen Tanzes und kann auch von bitterbösen Streits berichten. Ihr Eindruck: Männer sind in ihrer männlichen Rolle stark verunsichert. Das zeigt sich im Tango ganz direkt. Er gilt als einer der schwierigsten Paartänze, tanzen doch beide Partner verschiedene Schritte, zudem häufig in einem anderen Rhythmus. Der Führende, meist der Herr, tanzt zudem noch mit den Füßen anders – eine hochkomplexe Angelegenheit, die mehrere Jahre Training erfordert, bevor man sich in den Salons und auf den Milongas mit unbeschwerter Freude bewegen kann.

Dabei sind Technik, Präzision und Gefühl laut Enrica Steden die wichtigsten Elemente des Tangotanzens, in dem sich idealerweise haltungsmäßige Paradoxe vereinen: Der Mann braucht Klarheit und Kontrolle, aber auch Empathie. Er muss sich in jede Partnerin neu einfühlen und jede Frau anders führen. Die Frau wiederum sollte sich hingeben, dabei aber zugleich höchst aufmerksam sein und, wie Enrica Steden es nennt, jederzeit «in die Aktivität gehen» können. Die Geführte braucht die Sicherheit ihrer eigenen Achse, sollte aber zugleich – so subtil ist es im besten Falle wirklich – 500 Gramm ihres Gewichts auf den Tanzpartner verlagern. Schon der erste Kontaktmoment auf der Tanzfläche sei enorm wichtig, erklärt Enrica Steden. Es kommt auf die Haltung an, mit der man sich aufeinander einlässt. Und das Entscheidende beginnt schon vor dem eigentlichen Tanzen: Während bei den europäischen Standardtänzen persönlich aufgefordert wird, funktioniert es beim Tango Argentino über Blicke. Längeres Hin-, Weg- und wieder Hinschauen signalisiert Interesse, das schließlich ins Zusammentreffen auf der Tanzfläche mündet. Dass man auf diese Weise keinen öffentlich sichtbaren Korb kriegen kann, ist wohl der Sinn und Zweck dieser fein ritualisierten Aufforderungs­praxis.

Idealfall: Einheit

Es mag nicht weiter überraschen, dass alle drei Tanzprofis betonen, das eigentliche Tanzen, also das harmonische Wechselspiel zwischen zwei Tanzpartnern, beginne erst, wenn ein gewisses Level an Technik beherrscht wird. Aber nur die wenigsten wissen, was ­Enrica Steden überzeugend in den Tanzklassen für höhere Niveaus vermittelt: Je besser, weil abgestimmter man miteinander tanzt, desto mehr fallen Führen und Folgen zeitgleich zusammen. Im Idealfall gibt es keine Trennung mehr zwischen den beiden Aktionen, das Paar wird dann zu einer Einheit. Eine Erfahrung, die auch der professionelle Turniertänzer Tobias Wozniak bestätigt: «Wenn man gut zusammen funktioniert, ist jeder Paartanz sehr harmonisch und intim», meint der junge, aber sehr erfahrene Tänzer und Tanzlehrer. Selbst auf Turnieren, auf denen innerhalb weniger Minuten alles reibungslos ablaufen muss, löse sich dann jede Spannung, und das Paar bewege sich, abgeschlossen wie in einer Kapsel, als Team. Frei auf die Beziehungsebene übertragen, könnte das bedeuten: Je ausgeprägter Fertigkeiten und Einfühlung sind, desto größer ist die Chance, dass der Kampf der Geschlechter in harmonischem Miteinander aufgeht.


Tanz November 2017
Rubrik: Serie: Gesellschaftstanz, Seite 64
von Elisabeth Nehring

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