Reine Fantasie
Wir kennen sie, jene Tänzerinnen und Tänzer, die sich vom ersten Schritt an in unsere Herzen tanzen. Sie springen mit der Kraft eines Flohs und der Eleganz eines Pumas. Sie wirbeln wie eine rasende Spindel über die Bühne und strahlen bis hinter die dicksten Säulen des Zuschauerraums. Thibault Lac springt nicht, und er strahlt nicht. Und in die Herzen der Zuschauerinnen und Zuschauer tanzt er sich eigentlich auch nicht, wohl aber in deren Köpfe. Dort kommt er an, um zu bleiben.
Der Franzose gehört zu den markantesten Tänzerinnen und Tänzern, die in den letzten Jahren auf Schweizer Bühnen zu sehen waren. Er ist seit vielen Jahren ein profilierter Botschafter für den Tanz des Trajal Harrell (tanz 8-9/22). Und er erklärt dessen Arbeitsweise anschaulicher als der Meister selbst. Seit einigen Jahren schafft er auch eigene Arbeiten, häufig zusammen mit dem Basler Musiker und Sounddesigner Tobias Koch. So auch das Trio «Fool‘s Gold», das beim Festival «ImPulsTanz» in Wien zu sehen ist.
Eigentlich ist Thibault Lac durch Zufall Tänzer geworden. In Bordeaux, wo er aufgewachsen ist, hat er Tanzstunden besucht, klassisch und zeitgenössisch, und dann angefangen Architektur zu studieren. Doch ein Haus hat er nie gebaut. Der Tanz war stärker. «Ich habe das nebenbei gemacht und mir nie gedacht, dass ich Tänzer werden würde», erzählt er heute. Dann kam der Klassiker. «Ein guter Freund wollte bei P.A.R.T.S. in Brüssel vortanzen, aber nicht allein hinfahren.» Also ging Thibault Lac mit, und das Unvorhergesehene geschah: «Ich wurde aufgenommen und er nicht.»
Imagination als Inspiration
Während der Ausbildung trat er in Jérôme Bels «The Show Must Go On» auf und assistierte Tino Sehgal bei dessen Ausstellung im Guggenheim Museum in New York 2010. In jenem Jahr schloss er die Ausbildung ab und arbeitete erst mit Tanzschaffenden in Brüssel, wie Eleanor Bauer und Daniel Linehan. Und bald schon mit Trajal Harrell. Den US-amerikanischen Choreografen, der bis Sommer 2024 am Schauspielhaus Zürich Hauschoreograf mit eigenem Tanzensemble war, hatte er ursprünglich bei einem Austauschjahr in New York kennengelernt. Nun arbeitet er seit über zwölf Jahren mit ihm. «Ich war erst ein Release-Technik-Tänzer und tanzte Repertoire von Trisha Brown. Das sprach mich wirklich an und passte auch irgendwie zu meinem Körper.» Doch mit Trajal Harrell begann er umzulernen. Oder besser: «Ich lernte neue Wege, eine neue Freiheit, mich auf der Bühne zu bewegen.» Die Freiheit in den Arbeiten des Trajal Harrell – sie wird in unserem Gespräch wieder und wieder erwähnt. «Die Tänze sind zwar genau vorgegeben, wie eine Partitur. Aber diese lässt mir als Tänzer Raum für Interpretation und Veränderungen aus dem Moment heraus. Das hält die Arbeit und die Stücke auch so lebendig.»
Den Raum nimmt sich Thibault Lac, das wird für alle deutlich, die ihn sehen. Er braucht seine Zuschauerinnen und Zuschauer nur anzuschauen – und bannt sie sofort mit diesem Blick. Er braucht nur den Arm zu heben, und sie folgen ihm. Wie macht er das? Ist es die Model-Nonchalance, wie man sie bei Modeschauen sieht? Ist es die Körpergröße – er wirkt für einen Bühnentänzer sehr groß. «Ich bin nicht so groß, nur 1,87», sagt er. Er wisse auch nicht so genau, wie er auf der Bühne wirke, sehe das ja nicht. Und so viele Videos anschauen mag er nicht. «Ziel ist es, etwas anzubieten, das die Vorstellungskraft und die Gefühle der Menschen bündelt und ihnen die Möglichkeit gibt, mit den Menschen auf der Bühne eine Verbindung einzugehen.» Er sieht sich selbst auch nicht als technisch sehr versierten Tänzer. «Ich bin mit Trajal Harrell und seiner Arbeit der Schule entwachsen, und mein Tanzen bewegt sich nun mittels Imagination, Bildern, Fiktion. Der Körper und eine bestimmte Art von Bewegung und Tänzen speisen sich aus der Vorstellungskraft.» Das hat er mit den Jahren weiterentwickelt. «Ich denke, in unserer Arbeit sind wir Tänzer, aber wir sind einfach auch Menschen. Und die Shows sind nicht immer dieselben. Das sind sie für niemanden. Aber ich merke, dass ich gute Shows haben kann, aber auch einmal richtig schlechte. Ich glaube, das hängt davon ab, wie man in dieser Nacht mit den Menschen zusammenfindet, wie die Emotionen im Saal sind – auf alle Fälle fühlt sich jede Vorstellung einzigartig an.» Der zeitgenössische Tanz des Trajal Harrell verbindet Tanzstile verschiedener Epochen, Schichten und Bewegungen, wie Voguing, Modern Dance, Butoh – der Antrieb ist die Vorstellungskraft. Nicht das spezifische Training. Das gilt auch für Thibault Lac. «Ich halte mich überhaupt nicht für einen Butoh-Tänzer. Ich bin auch kein Voguer. Aber die Arbeit mit der Vorstellungskraft macht die Tänze möglich. Stell dir vor, du bist ein Butoh-Tänzer – wie würde ich mich bewegen? Ich habe nicht Butoh trainiert, das kommt alles aus der Imagination.»
Die Arbeit an und mit verschiedenen Stilen hat Thibault Lac schon zu seiner Zeit bei P.A.R.T.S. fasziniert, wenn Tanzgeschichte in Workshops lebendig wurde. «Wir hatten all diese Workshops in einem sehr spezifischen Genre. Das war, als würden wir diese Stile für eine Weile annehmen. Ok, ich bin jetzt ein Pina-Bausch-Tänzer. Oder: Ich bin ein Forsythe-Tänzer. Selbst wenn man das ganz schlecht konnte – was zählte, war die Geisteshaltung. Wie fühlt es sich an, wenn ich mich so bewege?» So sei das mit dem Voguing. «Ich bin nicht Teil der Ballroom-Szene. Würde ich aber an den Bällen teilnehmen – wie wäre das? Wie würde ich mich bewegen?» Sich verschiedene Tänze imaginierend anzueignen sei, als würde er in die Rolle einer Figur schlüpfen. Oder in einen anderen Teil der Geschichte, eine andere Sphäre. In seinem Stück «Fool‘s Gold», das Ende Juli in Wien zu sehen ist, nimmt er sich einer ikonischen Figur an – eigentlich eher der Fantasien einer Figur: Harlekin. Den komplexen Archetypus aus der Commedia dell'Arte, stellen er und sein Harrell-Mistreiter Stephen Thompson aufs Podest, Thibault Lac springend und tanzend, Stephen Thompson eher posierend, während Tobias Koch mit E-Gitarre oder Schellen die facettenreiche Identität des Narren umspielt.
Von Paris in die Welt
Vor einigen Jahren hatten Tobias Koch und Thibault Lac bei «ImPulsTanz» «Such Sweet Thunder» gezeigt. Anfang Juli präsentiert er nun das neue Solo «Blue Roses» beim Festival «Belluard Bollwerk» im Schweizerischen Fribourg. Ist das der Weg, den er künftig gehen will? Eigentlich trete er noch immer sehr gern in den Stücken anderer Künstler auf. «Aber in den eigenen Arbeiten kann ich eher bestimmen, mit wem ich arbeite. Das Reichhaltige an den Stücken, die ich gemacht habe, sind die Kollaborationen. Mit Trajal arbeiten wir im Dialog, die eigenen Arbeiten öffnen ein Fenster zu anderen Kollaborationen.»
Die Zeit in Zürich ist an ihr Ende gekommen. Das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble von Trajal Harrell kann von der neuen Theaterleitung nicht übernommen werden. Ein Stück soll nächste Spielzeit noch als Gastspiel gezeigt werden. Für Thibault Lac ändert das nicht viel. Er war eh nur als Gastperformer angestellt. Und so wird er von Paris aus, wo er wohnt, weiterhin mit Trajal Harrell auf Tour gehen. Und daneben seine eigenen Wege.
Tanz Juli 2024
Rubrik: Menschen, Seite 12
von Lilo Weber
Niels «Storm» Robitzky ist der wohl erste B-Boy, der es je zu Hochschulwürden brachte. Der bald 55-Jährige unterrichtet als Honorarprofessor an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz die Kunst des Urban Dance. Von ihm stammt das Regelwerk, nach dem große, internationale Battles im Hip-Hop bewertet werden, das sogenannte «Trivium»-System. Rechtzeitig vor Olympia erschien zudem sein...
Er war Feuer und Flamme für die Musik und vor allem für die Moves von Michael Jackson. Stundenlang hat er sich als Kind die Tracks auf der DVD des Albums «Bad» angeschaut und sein Idol imitiert. So und nicht anders hat die erfolgreiche Tänzerkarriere von Timothy van Poucke, Jahrgang 1997, ihren Anfang genommen. Er selbst formuliert es in einem Interview einmal so: «Ich konnte mich in...
Auf dem Land ist die Tankstelle am Dorfrand oft der einzige Rückzugsort für Jugendliche. Die Tankstelle, das ist der Ort, an dem Musik gehört wird, der Ort, an dem man Drogen nimmt, der Ort, an dem man sich verliebt und an dem man die Konflikte aushandelt, was auf dem Land auch mal heißt: mit Fäusten. Gleichzeitig ist die Tankstelle ein architektonisch liebloser Ort, ein Ort, der...