Nachtschicht

Marcos Morau und das Aterballetto tauchen mit «Notte Morricone» in die Traumfabrik des Filmkomponisten ein

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Innovativ, stets für Überraschungen gut und gewohnt unverwechselbar: Marcos Morau landet einen Treffer nach dem anderen — zuletzt mit seinem jüngsten Werk «Notte Morricone», einer Auftragsarbeit für das Centro Coreografico Nazionale/Aterballetto, die Anfang August in der Arena Sferisterio von Macerata unter freiem Himmel über die Bühne ging.

In Moraus vielschichtigem, von genialen Ideen getragenen Stück trifft der Erfindungsreichtum des Choreografen auf die Musik und Künstlerpersönlichkeit des 2020 in Rom verstorbenen Komponisten Ennio Morricone, der vor allem mit unvergesslicher Filmmusik berühmt wurde. Morau taucht in die nächtelangen Komponier-Sessions des arbeitswütigen, perfektionistischen Musikers ein, auch in dessen Einsamkeit und damit in die Verletzlichkeit eines Menschen, der sich mit seiner Kunst schonungslos vor dem Publikum entblößt.

Der 42-jährige Morau leitet die Kompanie La Veronal in Barcelona, ist Artist in Residence beim Staatsballett Berlin und wird 2025 noch dazu beim Mailänder Triennale Teatro als Associate Artist an Bord gehen. Mit seiner spartenübergreifenden Arbeit fordert er in «Notte Morricone» das gesamte Ensemble des Aterballetto. Dessen Tänzer*innen erweitern das Morau-typische gummiartige, sprunghaft-zerfahrene Bewegungsvokabular durch Gesang und Schauspiel, um die Vision des Tanzmachers auf der Bühne Wirklichkeit werden zu lassen. Den klanglichen Kitt dieser «Traumfabrik eines unbeirrbaren Künstlers» bilden natürlich Morricones zeitlose Kompositionen, ein eklektisches Opus, das den Bogen von der Filmmusik über Atonales bis hin zu Schlagern spannt. Für die lyrischen Arrangements zeichnet mit Maestro Maurizio Billi ein alter Freund Morricones verantwortlich. Man wird sie, an mehreren Abenden vom Orchester live gespielt, auf der bevorstehenden, langen Europa-Tour hören können – so auch zur Premiere im deutschsprachigen Raum am 23. November im Festspielhaus St. Pölten.

Musik aus der Blackbox
Morau kreiert gleichsam eine «neue Melodie» entlang der weithin bekannten Morricone-Klänge. Wie üblich bildet ein von ihm selbst entworfenes, ruheloses Bühnenbild das Setting für die bewegten Körper: Moraus charakteristische Props und Puppen sorgen für permanente Transformationen, öffnen den Blick auf Kindheitserinnerungen und die Welt des Kinos, in Aufnahmestudios oder intime Kaffeepausen, bei denen Schach gespielt wird. Zwei schwarze, mit Noten und Notizen beschriftete Tafeln in der Bühnenmitte bilden eine Art Leinwand, die sich gelegentlich auftut und den Blick in andere Welten und Dimensionen freigibt. So entspinnt sich eineinhalb Stunden lang ein fesselndes Wechselspiel zwischen diversen Objekten und einer Choreografie, die sowohl intensive Duette als auch explosive Ensemble-Szenen bereithält. Ferner wird der Tanz mit Textsequenzen der gehaltvollen Erzählkunst Carmina S. Beldas angereichert sowie mit O-Tönen Morricones aus Interviews und Dokumentationen. Von klassischen Movie-Soundtracks über (für Sänger*innen wie Mina, Gianni Morandi oder Edoardo Vianello geschriebene) Schlager bis hin zu anspruchsvoller atonaler Musik fluten die Kompositionen des Oscar-Preisträgers Morricone aus der Blackbox in der Bühnenmitte hinaus ins Publikum. Gerade so, als entströmten sie dem tiefsten Inneren, dem vollen Herzen des Komponisten.

Mit jeder Szene lernen wir Morricone besser kennen: den Trompeter, den Schachspieler, den Mann, der sich über die geistige Gesundheit genialischer Künstlerpersönlichkeiten Gedanken macht; wir erfahren, welche Rolle das Kino in seinem Leben gespielt hat, wie lange er auf Anerkennung aus Hollywood warten musste, und wie sehr er sich vor der eigenen Berechenbarkeit fürchtete. Dies ist eingebettet in Melodien aus Kinofilmen wie «The Good, the Bad and the Ugly», «A Fistful of Dollars», «Once Upon a Time in America» und «Cinema Paradiso». Zwischendrin eingefädelt: Elektro-Tracks der Berliner DJs Alex Röser Vatiché und Ben Meerwein, die wie Funkstörungen durch den Kopf des Komponisten geistern. Nicht zuletzt anhand dieser zeitgenössischen Einsprengsel entrollt Marcos Morau sein Nacht-Thema: Denn die Nacht gebiert sie, die Ideen, Hoffnungen und Ängste. Dabei scheint sich der Choreograf in der Einsamkeit Morricones wiederzuerkennen. Er vertraut dessen Figur zunächst einem einzelnen Tänzer (Giovanni Leone) an, dem er jedoch von der ersten Szene an ein Alter Ego (Leonardo Farina) zur Seite stellt, bevor er den Komponisten schließlich vom gesamten Ensemble verkörpern lässt. Dessen Tänzer*innen haben es übrigens zum ersten Mal mit einer Arbeit von Morau zu tun, scheinen sich aber mit dem Idiom des Spaniers pudelwohl zu fühlen.

Ein Leben voller Träume
Um einen Tisch herum, auf dem ein Radio und ein Aufnahmegerät nebst Schachbrett und obligatorischer Kaffeetasse stehen, nimmt derweil «die lange Nacht des Künstlers» ihren Lauf. Sie wird bevölkert von einer Trompete (Morricones erstem Instrument, wir hören das markante Trompetensolo aus «For a Few Dollars More»), einem Flügel (voller Überraschungen), stapelweise Notenblättern und symphonischen Skizzen, die durch die Luft flattern. Im Zusammenspiel von Bühnenbeleuchtung, Orchesterdirigat, einem Galopp in Richtung der Grenze des Alten Westens und dem Geplänkel kleiner Yankees, die zwischen den Tischen eines Saloons «guter gegen böser Cowboy» spielen, steigert sich «Notte Morricone» zu einer Explosion von Tanz, Theater und Musik. Vor dem Hintergrund unerbittlich tickender Metronome und rhythmisch nickender Köpfe beschwört Marcos Morau ein (Komponisten-)Leben voller Träume und schafft doch zugleich: Raum für Erinnerungen.
Aus dem Englischen von Marc Staudacher

Wieder Rom, Teatro Argentina, 1.–3., 5.–10. Nov.; St. Pölten, Festspielhaus, 23. Nov.; Ludwigsburg, Forum, 21., 22. Dez.; www.fndaterballetto.it


Tanz November 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 8
von Maria Luisa Buzzi

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