Flamenco en pointe
Neuer Job, neue Herausforderung, neue Kunst – es wird Zeit zu erzählen. Als Filipe Portugal vor einem Jahr die Aargauer Kulturinstitution «Tanz und Kunst Königsfelden» von Brigitta Luisa Merki übernahm, war für ihn klar, dass er in neue Richtungen tanzen wollte. Bislang hatte der langjährige Erste Solist am Ballett Zürich Choreografien geschaffen, die ganz aus der Musik geboren wurden. Nun wollte er anfangen, Geschichten zu erzählen.
Mit seinem Masterstudiengang in Choreografie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) war er in die Welt der Konzepte und des konzeptionellen Denkens eingetreten. «Für mich war immer die Musik Ausgangs- und Angelpunkt meiner Choreografien gewesen. Die Musik ist in mir drin, ist Teil meiner Haut, und daraus entstehen die Schritte. Es ist, wie ein Bild malen. Ich schaue es mir an, sehe, was fehlt und fange an, Menschen und Schritte um mich herum zu setzen.»
Nun also wollte er Neuland betreten. Was geschieht, wenn er einem Konzept folgt? Einer Geschichte? Das will er 2025 für die erste Ausgabe des Festivals unter seiner Direktion erkunden. Es ist seine zweite Arbeit für «Tanz und Kunst Königsfelden». 2023 hatte er noch unter der Leitung von Brigitta Luisa Merki in der alten Klosterkirche in Windisch das Ballett «Heimlich seufzen die Winde» kreiert. Es entstand wie alle seine Choreografien aus der Musik heraus, damals aus dem Fado. Und die Musik war auch der Ausgangspunkt der diesjährigen Produktion. «Ich wachte eines Morgens mit Georges Bizets Musik auf und wusste: Es ist ‹Carmen›.» Das schien ihm der ideale Stoff für den Übergang von der einen Direktionszeit zur nächsten, von der Tanzsprache der Flamenco-Erneuerin zu seiner. «Der Kirchenraum hat über all die Jahre so viel Flamenco beherbergt – das sind die Wurzeln des Festivals. Obwohl ich ihm nun meine eigene Sprache und meine Visionen verleihen werde, darf das nicht vergessen gehen.»
Kultureller Leuchtturm
Der Flamenco war 2007 in die alten Mauern gezogen. Getanzt aber wurde da schon viel früher, seit 1973, als der Schweizer Choreograf Jean Deroc die «Königsfelder Festspiele» ins Leben rief. 2007 erkundete Brigitta Luisa Merki mit ihrer Kompanie Flamencos en route den Resonanzraum der Kirche mit den europaweit bekannten farbigen Glasfenstern aus dem 14. Jahrhundert und schuf «resonancias», den ersten Teil einer Trilogie unter dem Titel «Tanz & Kunst Königsfelden». Was als Pilotprojekt begann, wurde 2012 zum kulturellen Leuchtturm geadelt und fortan vom Kanton Aargau direkt gefördert. Alle zwei Jahre wird seither die Klosterkirche zum Ort von Gesamtkunstwerken von Tänzerinnen und Tänzern, Musikerinnen und Musikern, denen bildende Kunstschaffende überraschende Räume bauen. In den Jahren dazwischen werden Vorstellungen mit Schulkindern aus der Gegend erarbeitet. Und seit einigen Jahren gehört zu «Tanz und Kunst Königsfelden» auch das Residenzzentrum tanz+, das aus den Proberäumen und dem ehemaligen Gästehaus von Flamencos en route besteht und anreisenden Tanzschaffenden aus dem In- und Ausland zur Verfügung gestellt wird.
Das alles und somit einen wichtigen Teil ihres Lebenswerks hat die Aargauer Choreografin im Januar 2024 an Filipe Portugal übergeben. Der Portugiese lebte da schon seit fast einem Vierteljahrhundert in der Schweiz. 2002 war er als junger Solist vom Nationalballett von Portugal in Heinz Spoerlis Zürcher Ballett gezogen und war fasziniert vom Handlungsballett. «2006 durfte ich Don Quixote tanzen und liebte es. Das war ein wichtiger Schritt in meiner Tänzerlaufbahn: Ich sollte nicht einfach gut tanzen, ich hatte etwas auszudrücken.» Ein Danseur noble, mit Betonung auf nobel – Filipe Portugal war ein Tänzer von vornehmer Zurückhaltung, elegant, hoch musikalisch. Er blieb als Erster Solist, als Christian Spuck 2012 übernahm.
Mehr Brüche, mehr Boden, mehr Kraft
2007 hatte er angefangen für das Junior Ballett, später für die Hauptkompanie zu choreografieren und wurde dann von Christian Spuck kontinuierlich gefördert. Doch Filipe Portugal war ein Tänzer, mit jeder Faser seines Körpers und Geistes, einer, der sich in seinen Part warf und in den Rollen aufging. Das wollte er lange nicht aufgeben, «bis zum letzten Tag, da ich auf meinem Maximum tanzen konnte», erzählt er. Als er sich dann zum Aufhören entschloss, kam die Pandemie. «Die letzten sechs Monate meiner Tänzerkarriere verbrachte ich zu Hause. Ich hatte keine Abschiedsvorstellung.» Darüber ist er heute nicht besonders unglücklich. «Ich weiss nicht, was ich für diese Vorstellung getanzt hätte. Ich habe so viele Erinnerungen, ich hatte so viele Möglichkeiten und das Glück mit so vielen wunderbaren Choreografen zu arbeiten – ich möchte lieber einfach alle diese Erinnerungen in mir bewahren.»
Vorerst saß er zu Hause. Er hatte zu tanzen aufgehört, bereits die ersten Choreografie-Aufträge wurden verschoben – niemand wusste, wie lange das dauern würde. Da hörte er, dass beim MA Dance, Choreography an der ZHdK mit Zoom gearbeitet wurde, und er beschloss, sich die Zeit der Ungewissheit nutzbar zu machen. «Das Masterstudium war für mich Ort der Reflexion – ich setzte mich noch einmal mit meinen Arbeiten auseinander. Und es gab mir Raum für Experimente.»
Dass man choreografieren lernen könne, glaubt er eigentlich nicht. Tatsache ist: Filipe Portugal hat sich durch sein Choreografiestudium verändert. Das machte sein Fado-Ballett «Heimlich seufzen die Winde» in der Klosterkirche Königsfelden deutlich. Seine Ballette waren bislang der Neoklassik verpflichtet gewesen, schön, unglaublich musikalisch, elegant, aber auch etwas zurückhaltend – wie ihr Schöpfer. Nun gab sich Filipe Portugal forscher, er wagte mehr Brüche, mehr Boden, mehr Kraft. Auch eine neue Arbeitsgemeinschaft hat sich aus seinem Studium ergeben. Er ist auf Salomé Martins aus dem MA «Dance, Teaching and Rehearsing Dance Professionals» gestoßen.
Seither assistiert sie ihm beim Choreografieren und ist als seine Stellvertreterin von «Tanz und Kunst Königsfelden» zuständig für die pädagogischen Projekte. Gemeinsam haben sie letztes Jahr die Pre-Professional Summer Academy «Mind the Gap» für Tanzstudierende im letzten Studienjahr ins Leben gerufen. Während fünf Wochen probten elf Studierende Leben und Arbeiten in einer Tanzkompanie. «Sie haben den Stundenplan einer Kompanie und dieselbe Zeit, ein neues Stück zu erarbeiten», erklärt Filipe Portugal.
Spitzenschuh im Kloster
So verwandelten sich die Probenräume auf dem ehemaligen Fabrikareal in Baden in ein Bienenhaus. In dem einen Studio kreierte Filipe Portugal mit einer Gruppe ein neues Stück «Quiet.ude», in dem andern studierte die kroatische Choreografin Maša Kolar ihr «Divine Creatures» ein. Später stieß eine Assistentin Marco Goeckes für dessen «Blushing» dazu. Die Auswahl der Gäste richtete sich nach Bedürfnissen im Hinblick auf die Karriere der Studierenden. «Es war uns wichtig, ein Stück eines sehr bekannten Choreografen einstudieren zu lassen, etwas, wonach junge Tänzerinnen und Tänzer dürsten und das sie stolz in ihrem Portfolio führen. Ebenso wichtig schien uns, dass die Studierenden mit einer Tanzdirektorin in Kontakt treten», sagt Filipe Portugal. Der Abend wurde im Kurtheater Baden gezeigt und ging dann auf eine kleine Tournee, auch das gehört zur Vision des Choreografen. «Größere Städte haben in der Schweiz ein festes Tanzensemble, aber die bleiben meist am Ort. Wir sehen eine hohe Qualität der Arbeit hier in Zürich oder in Basel, aber sie kommt nicht in andere Städte. Dabei hat in der Schweiz fast jede Stadt ein Theaterhaus.»
Die Sommerakademie «Mind the Gap» soll alle zwei Jahre in den Sommern ohne Festspiel stattfinden. Drei Studierende aus der letzten Sommerakademie tanzen nun bei «Carmen» mit und treffen auf so versierte Tänzerinnen und Tänzer wie Giulia Tonelli, die ehemalige Erste Solistin am Opernhaus Zürich. Sie wird die Carmen geben, während Don José aus einer anderen Ecke kommt. Filipe Portugal hat den spanischen Flamencotänzer David Coria für die Rolle gewonnen. «Ich sah ihn tanzen und war überwältigt. Ich wollte ihn unbedingt dabeihaben. Für mich ist klar, dass ich nicht Richtung Flamenco gehen will, aber er trägt ihn im Körper, ist selbst Choreograf und kann das anbieten.» Und Carmen – werden nun Spitzenschuhe in die Klosterkirche tanzen? Beim Fado-Ballett blieben sie außen vor, davor ohnehin. «Der Spitzentanz ist mir wichtig, das ist gewissermassen in meiner DNA. Ich möchte ihn in diesen Raum bringen und sehen, wie die Point Lady auf den Flamencotänzer trifft. Ich bin sehr gespannt, was passiert.» Der israelische Komponist Jonathan Keren hat sich Bizets Komposition angenommen, sie arrangiert für Cello und Perkussion und mit eigener Musik ergänzt.
Viel mehr will Filipe Portugal zu seiner «Carmen» nicht sagen; die Proben haben bei unserem Gespräch noch nicht begonnen. Das Festival wird dieses Jahr erweitert durch drei Konzerte des Musikensembles CHAARTS Chamber Artists, das auch live für die Vorstellungen von «Carmen» spielt, sowie zwei Vorstellungen von «Los Bailes Robados» der Companía David Coria. Das gehöre zu einem Festival, findet Filipe Portugal: Dass mehrere Produktionen gezeigt würden. Vielfalt eben.
«Festival Tanz und Kunst Königsfelden 2025», Windisch, Klosterkirche Königsfelden: «Carmen» vom 23. Mai bis zum 15. Juni; «Los Bailes Robados» mit der Compañía David Coria, 20., 21. Juni; Konzerte der CHAARTS Chamber Artists, 28. Mai, 4., 11. Juni; www.tanzundkunst.ch

Tanz Mai 2025
Rubrik: Menschen, Seite 20
von Lilo Weber
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