Das Zerwürfnis
Am 18. März 2024 steht Demis Volpi in der Stifter-Lounge der Hamburgischen Staatsoper und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. «Puh», lächelt er unsicher ins Mikro. «Aufgeregt!» Ende Oktober 2022 war bekanntgegeben worden, dass der damalige Direktor des Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg die Nachfolge von John Neumeier beim Hamburg Ballett antreten würde, das dieser zum Zeitpunkt der Amtsübernahme dann 51 Jahre geleitet hatte. Eigene Stücke solle er kreieren, Gastchoreograf*innen an die Elbe locken, das Neumeier-Erbe pflegen.
Für letztere Aufgabe wurde Lloyd Riggins verpflichtet, der Wunschnachfolger des vorigen Intendanten, wobei die genaue Aufteilung der Aufgaben zwischen ihm und Volpi wohl nicht bis ins letzte Detail festgeschrieben wurde – eine Sollbruchstelle im Konzept. Im Interview bekundete Volpi damals, dass er keine Angst vor dieser Aufgabe habe, aber Respekt (tanz 12/22). Und jetzt, eineinhalb Jahre später, stellt er seinen ersten Spielplan vor: «Puh. Aufgeregt!»
Tradition und Zeitgenössisches
Was er präsentiert, scheint die kritischen Stimmen erst einmal zu beruhigen: «The Times Are Racing», einen vierteiligen Abend zum Start, heterogen kuratiert mit Stücken von Pina Bausch, Hans van Manen, Justin Peck und einer älteren Arbeit von Volpi selbst, dann die Kreation «Slow Burn» von Aszure Barton, gekoppelt mit William Forsythes «Blake Works V», schließlich die Uraufführung «Demian», Volpis Quasi-Einstand in Hamburg, als großes Handlungsballett. Kein schlechtes Konzept: Tradition und Zeitgenössisches auf Augenhöhe nebeneinanderzustellen, alles in höchster Qualität.
Wobei erste Zweifel an Volpi schnell aufkommen: Sein Abschied in Düsseldorf, «Giselle» (tanz 8/23), erhielt schlechte Kritiken, und dass «The Thing with Feathers», sein eigener Beitrag zu «The Times Are Racing», künstlerisch nicht mit den drei Hochkarätern mithalten kann, ist unübersehbar. Schon zur Gala am Ende der eigenen Amtszeit hatte sich zudem Alt-Intendant John Neumeier enttäuscht gezeigt, dass das weiterhin von ihm geleitete Bundesjugendballett fortan nicht mehr im Ballettzentrum seine Heimat haben sollte, weil Volpi die Räume dort selbst benötigt. Wer mehr Choreograf*innen beschäftigt, braucht auch mehr Probenmöglichkeiten.
Nichtsdestotrotz ist die Presseresonanz positiv, die Aufführungen sind voll, vor allem aber hat eine Veränderung im Publikum stattgefunden – fortan kommt nicht nur das Bürgertum ins Ballett, sondern auch jüngere Zuschauer*innen, Subkultur, Off-Szene. Konservative Stimmen bemängeln, dass in den Programmheften gendergerechte Sprache verwendet wird und dass die Compagnie auf Social Media jetzt englisch als «Hamburg Ballet» firmiert, aber ein bisschen Missstimmung gibt es immer bei einem Leitungswechsel.
Kündigungswelle
Ein ernsthafter Dämpfer ist am 5. März dieses Jahres zu spüren. Volpi stellt seine Planungen für die Saison 2025/26 vor, mit der er gemeinsam mit dem neuen Opernintendanten Tobias Kratzer das Haus am Hamburger Dammtor endgültig zukunftsfest machen will, und beiläufig erwähnt er, dass es Veränderungen im Ensemble geben wird – mit Jacopo Bellussi und Madoka Sugai hätten zwei Erste Solist*innen gekündigt, erzählt er. Wenig später wird bekannt, dass nicht nur Bellussi und Sugai gehen, sondern auch die Ersten Solisten Alessandro Frola, Christopher Evans und Publikumsliebling Alexandr Trusch. Insbesondere Trusch nimmt in den Folgewochen kein Blatt vor dem Mund und erzählt in jedes Mikro, was er von Volpi hält: überhaupt nichts. «Hamburger Abendblatt», NDR und der Tanzblog einer Journalistin, der normalerweise für die Community kaum relevant ist, hier aber zur Informationszentrale der Intendanzkritiker*innen avanciert, bauen innerhalb kürzester Zeit eine Anti-Volpi-Stimmung auf, die immer wieder neu von Trusch befeuert wird: Der Intendant sei viel zu selten vor Ort, als Choreograf sei er Mittelmaß. «Das professionelle Level war auf dem untersten Niveau», so Trusch im NDR über Volpis «The Thing with Feathers». «Das Stück selbst ist schlicht schlecht choreografiert worden, ist unfassbar banal und entspricht überhaupt nicht dem Level, das wir gewohnt sind.»
Schwerer als diese eher geschmäcklerischen Vorwürfe, die man noch als Unzufriedenheit mit der ästhetischen Neuausrichtung des Hauses lesen kann, wiegt etwas anderes: Volpi sei als Chef problematisch, er manipuliere Mitarbeiter*innen, am Hamburg Ballett herrsche eine toxische Atmosphäre. Im Mai geht ein offener Brief bei der Hamburger Kulturbehörde (und gewogenen Medien) ein, in dem rund 30 Tänzer*innen die Stimmung in der Compagnie beklagen, kurz darauf springen ihnen 17 (offenbar großteils) ehemalige Tänzer*innen des Ballett am Rhein zur Seite: Auch an seiner alten Wirkungsstätte Düsseldorf habe Volpi mehr Energie darauf verwandt, zu intrigieren und zu manipulieren als große Kunst zu schaffen. In beiden Fällen erfolgen die Anschuldigungen mehrheitlich anonym.
Am 24. Mai veröffentlicht das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» eine lange Reportage über das Geschehen, ohne jede Ballettexpertise, aber mit hoher Reichweite. Und beschreibt eine verstörende Szene: Die 17-jährige Nachwuchstänzerin Azul Ardizzone (tanz 11/23), entdeckt von John Neumeier für die Titelrolle in «Romeo und Julia», sei von Volpi nicht ins Ensemble übernommen worden, mitgeteilt hätten der Intendant und die stellvertretende Ballettschulleiterin Gigi Hyatt ihr das in einem Gespräch, das die junge Frau zutiefst durcheinandergebracht habe. Ein Vorgesetzter setzt einer Minderjährigen hinter verschlossenen Türen zu – das klingt so entsetzlich übergriffig, man kann es kaum glauben.
Gerüchte und Hörensagen
Und das ist dann wirklich das Problem, wenn man tiefer ins Thema einsteigen möchte: Man bewegt sich im Feld der Gerüchte, des Hörensagens und einander widersprechender Aussagen. Es gibt keine Zeugen für das Gespräch zwischen Volpi, Hyatt und Ardizzone, und dass die junge Frau nicht ins Ensemble übernommen wurde, kann man auch anders interpretieren: Ardizzone hätte durch ihre Verpflichtung in «Romeo und Julia» viel Stoff verpasst, sie solle nach dem Abschluss noch Zeit in der Schule dranhängen, dann könne man weitersehen. Was lief schief, driften hier Wahrnehmungen auseinander? Waren die Vorgesetzten nicht einfühlsam genug? Hat die Tänzerin etwas falsch verstanden? Wurde sie manipuliert? Derweil macht das Gerücht die Runde, dass Alt-Intendant John Neumeier sich vom Ensemble mit dem Ratschlag verabschiedet habe, sich zu wehren, wenn den Tänzer*innen etwas nicht passe. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit, nur – weswegen wird sie dann überhaupt ausgesprochen? Weil Neumeier wusste, dass es Grund geben würde, sich zu wehren? Der Artikel im «Spiegel» ist so etwas wie der Todesstoß für Demis Volpi. Im Anschluss kündigt die Kulturbehörde an, eine «Gefährdungsbeurteilung» im Ensemble durchzuführen, sprich: eine anonyme Befragung zu Volpis Verhalten, die der Betriebsrat ohnehin alle paar Jahre ansetzt, vorzuziehen. Aber Ende Mai ist die Stimmung längst gekippt, unterschiedliche Interessensgruppen bringen sich in Stellung, die «Ballettfreunde Hamburg e. V.» gegen, die «Freunde des Ballettzentrums Hamburg e. V.» für Volpi, kommuniziert wird vorzugsweise per offenem Brief – natürlich würde die Umfrage zu Ungunsten des Intendanten ausfallen. Bis heute sind die Ergebnisse der Beurteilung unter Verschluss, die Folgen sind aber eindeutig: Am 10. Juni gibt die Behörde bekannt, dass Volpis Vertrag aufgelöst werde, für ihn übernehmen interimistisch Lloyd Riggins, Gigi Hyatt und Ballettbetriebsdirektor Nicolas Hartmann.
Am 6. Juli beginnen die «Hamburger Ballett-Tage», der Höhepunkt des Tanzjahres an der Staatsoper. Ursprünglich war zur Eröffnung die Uraufführung von Volpis «Demian» geplant, das wurde bereits Ende Mai abgesagt – reguläre Proben waren schlicht unmöglich, angesichts der Stimmung im Ensemble. Zunächst hieß es, als Ersatz werde Volpis älteres «Surrogate Cities» gezeigt, aber auch das wird nach der Vertragsauflösung gecancelt. Schließlich ist eine Neufassung von John Neumeiers «Die kleine Meerjungfrau» zu sehen, als ob Volpis Intendanz ausradiert werden sollte aus der Geschichte des Hamburg Ballett. Neumeier selbst ist bei der Premiere nicht anwesend, bleibt aber durch sein Werk präsent. Der Name Demis Volpi aber wird auf der Premierenfeier peinlichst vermieden, als ob es eine Order gegeben hätte, nicht an diese Dreivierteljahres-Intendanz zu erinnern.
Tanz August/September 2025
Rubrik: Hinter den Kulissen, Seite 52
von Falk Schreiber
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