Feinheit, Fülle, Freiheit

Kirill Petrenko entdeckt an der Bayerischen Staatsoper «Die Meistersinger von Nürnberg» neu, David Bösch verzettelt sich in ratlosem Aktionismus

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Es ist ja nicht so, dass Kirill Petrenko die «Meistersinger» einfach schneller dirigieren würde als die allermeisten seiner Kollegen. Dass sie bei ihm in sich bewegter klingen, filigraner, schwungvoller, detailreicher, folgerichtiger, das hat viele Ursachen. Schon das Vorspiel gelingt als Meisterstück ausgewogener Proportionen. Das C-Dur-Eingangsthema wird meist zu langsam genommen, fällt gravitätisch oder gar pompös aus – schon ­Richard Wagner hatte sich darüber geärgert. Bei Petrenko hat das berühmt-berüchtigte Thema ­inneren Drive und klare rhythmische Kontur.

Die Achtelnoten federn elegant; die Viertel marschieren nicht zur Subdominante, sondern sie werden – in flottem Tempo – fast legato gespielt, als gebundenes Detail einer größeren Phrase. So kann sich Petrenko immer wieder ohne große Beschleunigungen oder Tempobremsen auf das Hauptzeitmaß beziehen. Die staccacto gestoßene Es-Dur Passage der Holzbläser beispielsweise kommt bei ihm keineswegs schneller als üblich, sie fügt sich aber organisch in eine großbogige Architektur.

Gewiss, auch bei Roger Norrington dauerte das «Meistersinger»-Vorspiel kaum zehn Minuten. Doch war es eben nur das Vorspiel. Kirill Petrenko und das ...

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Opernwelt Juli 2016
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Stephan Mösch

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