Klangvolle Enge

Für die Inszenierung „Anna“ am Schauspielhaus Neubrandenburg wurde ein außergewöhnliches Regiekonzept entwickelt. Das Bühnenbild, ein akustisch abgeschlossener Raum – lesbar als ein Sinnbild der DDR-Gesellschaft – wird zu einer Welt voller Misstrauen, Zorn und Angst. Für die Werkstätten war das Konzept technisch und für die Tonabteilung akustisch eine Herausforderung

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Die Geschichte „Anna“ stammt von der britischen Erfolgsautorin Ella Hickson, uraufgeführt wurde das Stück bereits im Mai 2019 am National Theatre, London. Im Februar 2025 feierte die Inszenierung ihre Deutschlandpremiere im Schauspielhaus Neubrandenburg, ein Standort des Theater Orchester Neubrandenburg Neustrelitz (TOG). An das älteste erhaltene Theatergebäude in Mecklenburg-Vorpommern gelangte damit ein Stück, das DDR-Geschichte lebendig machte und zugleich zeitlose Fragen in den Mittelpunkt stellte.

Woran orientiert sich oder was ist moralische Integrität, wo endet die Erfüllung persönlicher Träume, die eigene Verantwortung und wann beginnen fragwürdige Kompromisse?

Ein Abend, 1968 in einer Ost-Berliner Neubauwohnung, eingerichtet im Design der 1960/70er. Eine junge Frau, Anna, kommt nach Hause, aufgeregt und nervös öffnet sie die Wohnungstür, bereitet in Eile in Küche und Wohnzimmer ein Fest für die Beförderung ihres Mannes Hans vor. Seine Kollegen und sein neuer Chef sind eingeladen. Kurz führt sie ein Telefonat, wirkt irritiert. Annas Freundin, Frederike, Lehrerin wie Anna, kommt vorbei, erzählt von einer neuen Liebe. Elena, eine ältere Nachbarin schaut ebenfalls ungebeten herein, um sich aufzuwärmen. Robert, ihr Mann wurde kürzlich von der Stasi verhaftet, nun begegnet ihr viel Misstrauen im Haus. Anna ist weiter aufgeregt: Wird das Fest gelingen, werden sich alle wohlfühlen? Nach und nach treffen die Gäste ein, es wird getrunken und geplaudert, alle wirken ausgelassen. Bis Hans’ neuer Chef erscheint, Christian Neumann. Anna glaubt, in ihm ihren ehemaligen Spielgefährten aus Kindertagen, Max Becker, zu erkennen. Noch zweifelt Anna, täuscht sie sich oder nicht? Max Becker hatte in den letzten Kriegstagen den einmarschierten russischen Soldaten das Versteck von ihr und ihrer Mutter verraten – was Annas Mutter nicht überlebte. Von seiner Schuld an deren Tod ist sie fest überzeugt. Über den Abend und alle Menschen in der Wohnung legt sich allmählich ein Netz aus Misstrauen, Verrat und Angst. Verdächtigungen in viele Richtungen entstehen, was ist wahr und wem kann man noch trauen? Das junge Paar einander, der Nachbarin, deren Mann angeblich unschuldig in Haft sitzt? Dem jungen Kollegen von Hans, dessen sportliche Karriere zerstört wurde? Der Freundin von Anna, die eine Beziehung mit Max gesteht? Oder Christian alias Max, der beteuert, Anna zu lieben? Der dank seiner Beziehungen zur Stasi die DDR mit ihr verlassen will und kann. Alle diese Fragen betreffen Anna, direkt oder mittelbar, sie wird immer aufgeregter und verzweifelter. Hält eine flammende Rede auf den Sozialismus, erzählt von ihrem Glauben an dieses System. Zynisch oder ehrlich? Am Schluss ist klar: In diesem Spiel mit einer überraschenden Wendung gibt es Verlierer, Verratene und Verräter. Und Anna gehört dazu. Die enge, akustisch abgeschlossene Wohnung lässt sich als Sinnbild der DDR-Gesellschaft, des Lebens in diesem Land verstehen. Durch die großen Fenster gehen Blicke, auch voller Sehnsucht, nach draußen. Doch die Enge bleibt. Eine Enge, auf der Bühne künstlich hergestellt, in der die Protagonisten sich nicht ausweichen können und ihre Begegnung in Misstrauen und Chaos – und Ent-Täuschung – endet.

Teilhaben am Nichtsichtbaren
Zum besonderen Konzept für „Anna“ gehörte neben einer schalldichten Wohnung die entsprechende Audioübertragung aus dem Bühnenbild ins mit Kopfhörern ausgestattete Publikum. Kein Ton durfte in den Saal mit 180 Plätzen dringen – wovon man sich bei kurzem Absetzen des Kopfhörers auch überzeugen konnte. Für die technische Umsetzung war Daniel Wolff zuständig, der seit Mai 2023 die Tonabteilung am TOG leitet. Auch für ihn war das Beschallungskonzept der Produktion etwas Außergewöhnliches: Gespräche und Geräusche im Bühnenraum wurden lediglich über die zwei Mikrofone, die Hauptdarstellerin Lisa Scheibner unter ihrer Perücke an den Ohren trug, übertragen. Das Publikum ist so auf eine ungewohnte, nahezu intime, realistische Weise der Hauptfigur Anna ganz nah, ihren Gesprächen und den umgebenden Geräuschen, hört, was die Darstellerin selbst sagt und hört – mal näher, mal ferner. Exakt wie wir selbst hören. Und Ungesehenes (in den nicht einsehbaren Räumen oder Momenten) bleibt hörbar, öffnet so eine besondere erzählerische Ebene. Hier werden Dinge, selbst in geflüsterten Sätzen, preisgegeben, an denen das Publikum sonst nicht teilhätte. „Wir haben dafür ein Silent-Disco-System von Headphone Revolution gewählt, das mit drei Kanälen zum Einsatz kommt, denn damit können alle Kopfhörer kabellos angebunden sein. Das System haben wir ebenso wie die Mikros für die Hauptdarstellerin gekauft, nicht geliehen“, erklärt Wolff. Eine gute Basis für weitere tontechnische Experimente oder Produktionen auf der Bühne. Das Audiosignal aus den Mikrofonen der Hauptdarstellerin wird binaural aufgenommen und wiedergegeben. Diese Form der Audioaufnahme ahmt die Art und Weise nach, wie das menschliche Ohr Schallwellen aufnimmt und räumlich hört. Einen besonderen Vorteil des Silent-Disco-Systems gab es für das Publikum, das Erleben war akustisch barrierefrei möglich, denn: „Der erste Kanal des Systems sendet das ,normale‘ Stereosignal, der zweite Kanal ein etwas lauteres Stereosignal, für Menschen mit einer Höreinschränkung oder Hörgeräten. Der dritte Kanal sendet ein Monosignal, damit Menschen mit einseitiger Höreinschränkung dennoch alle Informationen erfassen können.“ Dank der Kopfhörer können die Zuschauer direkt in das Geschehen des Stücks eintauchen und werden akustisch quasi in das Bühnenbild transportiert.

Einrichtung einer realistischen Klangwelt
Die Soundgestaltung innerhalb des Bühnenbilds umschreibt Wolff mit einem „brutalen“ Realismus, und meint damit ein präzises akustisches Abbild des Raums, der Umgebung. „Daher wurden insgesamt acht Lautsprecher in den Räumen verteilt, um einzelne Geräte und Sounds – zum Beispiel eine Spieluhr, einen Plattenspieler, ein Tonbandgerät usw. – sehr genau zu verorten. Wir haben u. a. mit vier kabelgebundenen X-4-Lautsprechern von L-Acoustics, mit einem 100-V-Lautsprecher und mit kleinen Bluetooth-Lautsprechern gearbeitet. Vor allem an Orten, wo keine tiefen Frequenzen benötigt wurden und es keine unsichtbaren Kabelführungsmöglichkeiten gibt.“ Der 100-V-Lautsprecher kam zum Einsatz, da er tiefere Frequenzen wiedergeben kann als die X-4-Lautsprecher und somit nicht nur für den Wohnungsflur, sondern auch für das Brummen des Kühlschranks in der Küche benutzt werden konnte. Möglich ist dies, da tiefe Frequenzen für das menschliche Gehör nicht gut ortbar sind und der Lautsprecher daher nicht direkt in der Küche platziert werden musste, sondern lediglich an der Durchgangstür. „Für die tieferen Frequenzen im Wohnzimmer, wie für die Musik aus dem Plattenspieler, wurde dasselbe Prinzip verwendet“, erläutert Wolff. „Dort wurde das Signal zusätzlich direkt auf die Subwoofer der Haus-PA gegeben und entsprechend verzögert, sodass auch für das Publikum der Eindruck entsteht, dass die tiefen Frequenzen aus dem Plattenspieler direkt kommen.“ 

Weitere tontechnische Effekte vervollständigten das Hörerlebnis: Signale, etwa eine Stimme aus dem Telefonhörer, wurden direkt in die Kopfhörer der Zuschauer eingespielt. „Denn im physischen Telefonhörer gab es keinen Platz bzw. keine Möglichkeit, einen ansteuerbaren Lautsprecher zu installieren. Allerdings mussten wir exakt darauf achten, auf welcher Seite beispielsweise der Hörer gehalten wird und wann und wie die Seite gewechselt wird, um ein möglichst natürliches Klangbild entstehen zu lassen.“

Neues technisch-künstlerisches Format
Doch nicht nur die Geräusche ergeben einen natürlichen Klang, sondern auch die Spielbzw. Sprechweise der Schauspieler:innen, erläutert Wolff weiter: „Wir haben von Tag eins an bereits auf der Probebühne mit dem System probiert. So konnten sich alle Beteiligten an die – im Vergleich zum üblichen Sprechtheater – doch deutlich intimere Sprechweise gewöhnen. Um so auch die Sprache natürlich wirken zu lassen. Hinzu kamen noch teils choreografische Aspekte, da es durch das Konzept auch wichtig war, wer was in welcher Lautstärke und in welche Richtung spricht. Beachtet werden musste dabei, wo im Raum sich die Mikrofone in diesem Moment befinden.“ Die Prozesse dieser Produktion entsprachen nicht der klassischen Herangehensweise im Theater. Eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Regie war also unerlässlich. „Dies hat die Entstehung allerdings auch sehr interessant gemacht, denn: für alle Beteiligten war der Arbeitsprozess Neuland und wir mussten uns erst finden. Dadurch entstand eine sehr enge Bindung zwischen den Beteiligten. Ein weiterer Aspekt ist, dass mit dieser Produktion ein neues technisches Format ins Theater eingebracht wurde.“ Für Daniel Wolff ist klar, „das Einbringen neuer technischer und künstlerischer Formate hilft, neues und eventuell auch jüngeres Publikum zu gewinnen. Daher lässt sich aus meiner Sicht nur sagen, dass sich der Aufwand definitiv gelohnt hat.“

Ein schalldichter Raum – von der Recherche zum Bau
Eine kleine Wohnung mit fünf Räumen als schalldichtes Bühnenbild herzustellen, war für alle Beteiligten des Theaters eine neue, ambitionierte Aufgabe, erinnert sich Jörg-Uwe Kerstein, Technischer Direktor am Theater. Skeptisch sei er gewesen: Denn nach seiner Recherche war klar, dass ein Kulissenbau für „Anna“ nach dem Vorbild von Dolmetscherkabinen zu aufwendig und schwer würde. Die doppelseitige Beplankung von Kulissenwänden und Ausfüllung der Zwischenräume mit Dämmmaterial hielt er zudem für nicht ausreichend, Schwachpunkte wären aus seiner Sicht der Plafond und ein Zargenunterbau gewesen. Doch es wurde an einer geeigneten Konstruktion weitergeforscht, erzählt Dirk Biallas, Werkstättenleiter des Theaters. Anfangs schien auch nach seiner Einschätzung der Bau eines komplett schalldichten Raums nicht realisierbar. Nicht nur technische Details, auch die gesamte zeitliche Planung fand er problematisch: „Für die Umsetzung in London hatte das Team dort eine monatelange Vorbereitungszeit. In unserem Fall, der deutschen Erstaufführung, gab es aber diese umfangreiche Entwicklungszeit nicht. Im Gegenteil: Die Übergabe der Produktion erfolgte im laufenden Spielbetrieb, während der aufwendigen Musical-Produktion ,Chicago‘. Für die neue Inszenierung hatten wir nur eine Werkstattzeit von 17 Arbeitstagen.“ Also kaum Spielraum für Testläufe oder ähnliche Dinge, die aus zeitlichen und logistischen Gründen nicht möglich waren. Auch der Herstellungsetat inklusive Kostüm nahm sich mit 18.000 Euro bescheiden aus. Auch eine nächste Inspiration, ein schalldichtes Musikstudio, kam in Neubrandenburg nicht infrage, stellte Biallas fest. Denn die Wand- und Deckenoberflächen in einem solchen Raum hätten nicht mit den finalen Oberflächen einer DDR-Neubauwohnung übereingestimmt.

Die umgesetzte Lösung sah dann so aus: „Wir wählten statt der herkömmlichen Theaterdekoration – also einer Holzrahmenkonstruktion, belegt mit dünnem Sperrholz oder mit Stoff bezogen – zweischalige Wand- und Deckenelemente. Diese wurden mit unterschiedlich dicken Sperrhölzern für außen und innen belegt und im Inneren mit einer 100 mm starken Dämmung aus Holzwolle inklusive Luftschicht versehen.“ Die für das Publikum zuerst sichtbare, bis auf eine Tür geschlossene Seite des Bühnenbilds entsprach dann wieder der typischen Theaterbauweise, Sperrholzoptik pur. Nach einem kurzen Stück-Intro, in dem Schauspielerin Barbara Schnitzler die Funktionsweise der Kopfhörer erklärt, dreht sich der Raum um 180 Grad. Der Blick fällt dann auf die Ansicht eines Wohnzimmers in einer DDR-Neubauwohnung Typ P2 durch eine 5 m × 2 m große Fensterfront aus 8 mm starkem Makrolon-Glas, gerahmt von Betonfertigteilen in der ihnen typischen Optik. Ein weiteres, kleines Fenster in der linken Wohnzimmerwand ist beim Drehen der Bühne zu sehen. Wegen der Drehung des Bühnenbilds erhielt ein Deckenelement im Zentrum der Bühnendekoration einen Durchlass für alle notwendigen Leitungen. Zusätzlich wurden alle Wand-, Decken- und Bodenelemente an den vertikalen und horizontalen Verbindungsstellen noch mit Schallschutzstreifen versehen. Die Gesamtgröße der Wohnung mit Flur, Badezimmer, Küche inkl. Durchreiche ins Wohnzimmer, und Schlafzimmer hat eine Grundfläche von 6 m × 6 m. Im hinteren Bereich, auf Höhe von Schlaf- und Badezimmer, beträgt die Breite 8 m. Die Konstruktion ist auf einer Aluminium-Zargen-Unterkonstruktion aufgebaut, die wiederum auf einer Drehscheibe mit 7 Metern Durchmesser steht – um die Wohnung während des Stücks um die erwähnten 180 Grad drehen zu können. Die vier Ecken der Konstruktion stehen über die Drehscheibe, daher wurden die Zargenelemente auf der Drehscheibe 25 mm erhöht aufgebaut. Für Dirk Biallas bilden die künstlerische Umsetzung und das technische Konzept zusammen eine sehr gute, überzeugende Mischung: „Für dieses Experiment hatten wir nur einen einzigen Versuch und der musste sitzen! Die technische Realisierung hat aus meiner Sicht dann wirklich sehr gut funktioniert. Und es war auch für mich ein Erlebnis, eine Theaterinszenierung auf diese besondere Weise zu sehen und zu hören!“ 

„Anna“
Inszenierung: Walter Meierjohann 
Bühnenbild: Steffi Wurster 
Mitarbeit Bühne und Kostümbild: Christine Jacob 
Sounddesign: Daniel Wolff
Dramaturgie: Christine Boyde a. G. / Stefanie Esser


BTR Ausgabe 3 2025
Rubrik: Produktionen, Seite 30
von Iris Abel

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