Rituale: Louis Stiens
Ich habe tatsächlich ein kleines Ritual vor Auftritten, die mir in kürzester Zeit viel Kraft und künstlerische Aussage abverlangen. Ich murmele dann kurz vor dem Auftritt den Vers: «An schaurigen Riffen zerschellt der purpurne Leib» – aus dem Gedicht «Klage» von Georg Trakl. Obwohl dieser Vers eher düster und verzweifelt klingt, kommt er mir wie ein Schlachtruf vor und gibt mir Mut, mich auf die Bühne zu stürzen. Vermutlich erinnert er mich auch an eine Zeit, in der ich unbewusst mit meiner eigenen Bühnenangst kämpfte.
Ich hatte wenig Selbstvertrauen und haderte mit diesem Kamikaze-Moment, auf die Bühne zu springen, um vor Hunderten mir unbekannten Gesichtern zu tanzen.
Trakls Gedichte sind das künstlerische Werk eines hoch sensiblen, beinahe manisch leidenden jungen Mannes. Seine Poesie gibt mir aber gerade deswegen Mut. Sie verbindet mich mit dem Leid eines anderen, sodass ich weiß: Ich bin nicht allein mit meiner Angst. In diesem kurzen Moment der schier unerträglichen Nervosität vor einem Auftritt beruhigen mich Trakls Worte. Weil sie meinen Wunsch bekräftigen, nicht nur ein ausführender Körper, sondern ein komplex funktionierendes, künstlerisch wirkendes Wesen zu sein!
Lou ...
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Tanz Jahrbuch 2019
Rubrik: Glücksbringer, Seite 10
von
Meine Glücksbringer sind seit jeher Ein-Cent-Münzen, die ich oft auf der Straße finde, wenn ich spazieren gehe und die Gedanken schweifen lasse. Die Idee dahinter ist: Wenn ich stehen bleibe und die Münze aufhebe, dann ist das ein Zeichen dafür, dass ich bescheiden und demütig bleibe. Ich bin überzeugt davon, dass «Werke» immer auch ein bisschen «Glück» brauchen....
Prolog
Einmal dem haarrissigen alten Firnis nahe sein, einmal die marmorne Kühle, die Aura des Originals spüren. Nachts, wenn alles schläft, niemand wacht. Wenn der Traum die Herrschaft übernimmt, die Wirklichkeit erlischt … «In the day nothing matters, it’s the night time that flatters», besang Laura Branigan in den 1980er-Jahren in «Self Control» die...
Ich habe keinen Talisman oder Glücksbringer, den ich vor Beginn meiner Auftritte einsetze. Ich glaube, das liegt daran, dass ich inzwischen gelernt habe, dass in den kostbaren Momenten vor Vorstellungsbeginn manchmal ganz von selbst völlig unerwartete Dinge passieren können. Ein Beispiel: Ein Freund kriegt kein Ticket für die Vorstellung, oder ein Kollege erkrankt...
