Tod im Spiegel
Sie sitzt in Reihe 5, als das Licht mählich erlischt. Wie mag sich das anfühlen, der Premiere der eigenen Inszenierung vom Parkett aus beizuwohnen? Sasha Waltz braucht ein Weilchen, bevor sie zur Ruhe kommt. Bevor sie nicht mehr die Choreografin, die Regisseurin des Abends ist, die dem etwas saumseligen Chor bedeuten muss aufzustehen: indem sie die Handflächen nach oben wendet und langsam aufwärtsbewegt.
Die Damen und Herren, die Bernd Skodzigs Bühnenpodest in der Salzburger Felsenreitschule flankieren und ein paar Minuten später den ersten Choral anstimmen werden – sie können die diskrete Gestik, die sie zum Handeln auffordert, nicht wahrnehmen. Können nicht sehen, was Waltz tut. Trotzdem erheben sie sich unversehens, während elf Tänzer*innen in der Bühnenmitte noch einer seltsamen Verrichtung nachgehen.
Das mechanische Rattern ihrer Nähmaschinen, auf eine lange Abendmahlstafel montiert, erfüllt den Klangraum. Unterkleider, Totenhemden werden endgefertigt, dann übergestreift. Präparation für die zweistündige Reise durch Johann Sebastian Bachs «Johannes-Passion». Sie führt in den Garten Gethsemane, zu Christi Gefangennahme, durchs Martyrium zur Kreuzigung auf dem Berg Golgatha, ans Grab. Und sie endet hier – in der getanzten Uraufführung bei den Salzburger Osterfestspielen im Vorfrühling 2024 – mit der biblischen Jakobsleiter, die Himmel und Erde verbindet.
Sasha Waltz ist eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur, weil sie seit über 30 Jahren mit ihrem Partner Jochen Sandig eine eigene Kompanie unterhält und seitdem eine enorme künstlerische Entwicklung durchlaufen hat. Sondern auch, weil sie Tief- und Nackenschläge wie das Scheitern ihrer Co-Intendanz mit Johannes Öhman am Berliner Staatsballett verwunden und ihnen Verwandlung abgerungen hat. So kommt es, dass ihr seit den 1980er-Jahren stetig wachsendes Œuvre durch Vielfalt glänzt – durch einen Reichtum an Farben, Inhaltsschichten, Gestalten und Stilen. Waltz’ Werdegang ist eine fortlaufende Metamorphose. Überfällig, dass sie dafür den (zur Salzburger Premiere noch nicht verkündeten) «Deutschen Tanzpreis» erhält.
«Je me revolte, donc nous sommes». Albert Camus hat diese Worte zu Papier gebracht. Im Angesicht der getanzten «Johannes-Passion» flackern sie im Gedächtnis auf. Wo der Romancier, Essayist, Literaturnobelpreisträger und Vordenker des Existenzialismus das Absurde als schicksalhaftes Gegenüber, als Grundtonus unseres intransigenten Daseins beschrieb, dem das Ich einzig mit der Kraft seiner Auflehnung beikommen kann, setzt Sasha Waltz den gleichen Akzent – nur gleichsam spiegelverkehrt. Denn die Leidensgeschichte Christi, der verraten, verhöhnt, verurteilt und hingerichtet wird, verwirft – abseits der Einpeitscher aus dem Schoß des Volkes – die Wutreflexe und folgt stattdessen einer geradezu heutigen Devise: annehmen, was ist. Was Camus’ Philosophie, der mit «Der Fremde» nach eigenem Eingeständnis eine Art Anti-Christ geschaffen hat, recht nahekommt: das Diesseits zählt, das Jenseits ist die reine Illusion.
Eine Botschaft, der Waltz ikonische Momente abgewinnt. Es sind Augenblicke von beinahe halluzinatorischer Qualität, die sich unauslöschlich mit Bachs Musik verbinden. Im Auftrag der Opéra de Dijon, die das Ergebnis bereits kurz nach der Premiere gezeigt hat, gelingt der Choreografin eine bezwingende Umsetzung des Stoffs, der Komposition, des Glaubenskosmos, dem das Bach’sche Opus magnum entstammt. Nichts geht dabei verloren: kein Orchestereinsatz, kein chorisches Echo, weder Gesangs- noch Tanzsolist*innen – alles bleibt ineinander verwoben. Das kathedralenartige Ambiente der Felsenreitschule mit ihren raumhoch getürmten, aus dem Halbdunkel gähnenden Arkadengängen erweist sich als idealer Schauplatz für das tanzliturgische Zeremoniell. Der erste Tänzer des Abends ist der Dirigent: Leonardo García Alarcón bewegt sich in zarten Körperserpentinen, während die Welt ringsum noch zu schlafen scheint. Alarcón führt den Stab über die Cappella Mediterranea, Chöre aus Namur und Dijon, zehn Sänger*innen und die Tänzer*innen der Kompanie Sasha Waltz & Guests – ein Riesenaufgebot, nach und nach vom Sog der Scheinwerfer erfasst.
Mitten unter uns
Da schält sich zunächst die Tänzerschar, nackt und bloß, aus dem Dämmerlicht. Verletzliche Kreaturen, deren Haut leichenfahl schimmert, tasten sich Schritt für Schritt voran – die ersten und die letzten Menschen zugleich. Waltz setzt machtvolle szenische Einschreibungen an den Anfang und weist den Weg in eine «Johannes-Passion», die mit jeder Arie, jedem Rezitativ an Dichte gewinnt und allen tänzerischen Zierrat abstreift. Lassen die ersten Figurationen noch an Jugendstil-Illustrationen von Aubrey Beardsley denken, setzt sich bald eine schroffe, veristische Ästhetik durch, die den Körper als reines Ausdrucksinstrument in Dienst nimmt – als Emanation der Seele, Spiegel des Geschehens und Teil des Kollektivs. Alles, was Bach musikalisch verkapselt und in barocken Schönklang verwandelt hat, schießt hier durch die Außenmembran des Tanzes: zerstörerische Regungen, Gewaltexzesse, Repressionen, Fanatismus und Feindschaft bis aufs Blut.
Nicht zufällig überblendet Waltz das Geschehen in die Gegenwart, abzulesen an zwei exponierten Markern: an der Doppelgestalt der Jesus-Figur – Mann und Frau zugleich; sowie am Umgang mit den sogenannten «Turba»-Chören, die bei Bach als Vertreter der Judenheit agieren und Pilatus – «ich finde keine Schuld an ihm!» – zu Christi Kreuzigung treiben. «Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz soll er sterben; denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.» Es ist der gängige Antijudaismus des Zeitalters, der hier widerhallt. Waltz bricht ihn auf, indem sie die Chorist*innen mitten im Parkett positioniert. Sie sind unter uns. Gehören dazu. Niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen. Niemand kann auf den Nächsten, den Nachbarn, die Nachbarin verweisen. Wir sind der Mob. Der Mensch des Menschen Wolf.
Der letzte Atemzug
Aufgerissene Münder, himmelwärts fahrende Hände, schreckgeweitete Augen, schmerzverzerrte Gesichter und mittendrin der dornenbekrönte Christus – lebendige Menschen bevölkern ein aus rohen Holzrahmen gezimmertes Triptychon. Sie sind die Augenzeugen des Martyriums, das Jesus erleidet. Ihre Gebärden nehmen vorweg, was wenig später im Angesicht seines Todes geschieht. Leitmotivisch ist roter Stoff durch die Bilder geflochten, Fingerzeig auf Matthias Grünewalds Isenheimer Altar, ein spätgotisches Meisterwerk, das Waltz zitiert: Rot als Zeichen der in Trauer und Trauma vereinten Gemeinschaft. Bis die Stimme des Gekreuzigten – der Bassbariton Christian Immler – aufseufzt: «Es ist vollbracht.» Die Welt versinkt. In der Nachtschwärze zittern Bildfragmente des Wandelaltars über Spiegelrotunden, von unsichtbaren Händen durch die Finsternis getragen. Nicht als getanztes Narrativ, sondern als Reflexion des Gemäldes – Inbegriff der christlichen Ikonografie – fängt Sasha Waltz den letzten Atemzug ein. Das Zurückstehen des Tanzes in diesem Moment, der das Leben radikal und für immer stillstellt, macht die Größe ihrer «Johannes-Passion» aus. Das schwere, zentnerschwere Gewicht des Sterbens, das Moribunde niederringt und Begleitende die Erlösung ersehnen lässt – in diesem Akt, dieser theatralen Transposition gelingt der Choreografin ein überwältigendes Moment vollkommener Wahrheit. Erleichterung, wenn der geschundene Körper erlischt, die Seele davonfliegt, wenn die Tränen fließen und die Geburt zur anderen Seite vollzogen ist. Sie mündet freilich ins Ungewisse. In das Rätsel, dass die Hinterbliebenen erst lösen, wenn sie selbst die Schwelle überschreiten werden. Es gibt keine Antwort, nur das Selbstgespräch – und die Hoffnung, die Waltz unter den Klängen von «Mein teurer Heiland, lass dich fragen» in ein leichtfüßiges, geradezu beschwingtes Ensemble fasst. Ein Gathering voller Zartheit und Inbrunst, weil es von der Liebe zum Leben kündet – ja vom Leben selbst.
Wieder in Paris, Théâtre des Champs-Elysées, 4., 5. November; www.sashawaltz.de
Tanz Oktober 2024
Rubrik: Tanzpreis, Seite 42
von Dorion Weickmann
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