Augen auf, Schubladen auf!

Wie bekommt man, wie behält man ein gutes Publikum für modernen Tanz? Und: Was ist ein gutes Tanzpublikum?

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Seit Aurélie Dupont die neue Spielzeit des Balletts der Opéra verkündet hat, läuft in Paris eine Online-Petition gegen zu viele zeitgenössische Abende. Beim Berliner Staatsballett päppelt Nacho Duato die mehrteiligen, modernen Programme noch immer genauso mühsam durch wie sein Vorgänger Vladimir Malakhov.

Ist das breite Tanzpublikum 30 Jahre nach William Forsythe denn immer noch stockkonservativ? Warum klafft vielerorts, vor allem in der deutschen Hauptstadt, eine Lücke zwischen den Ballettzuschauern und denen in den zeitgenössischen Häusern, warum wollen die einen nichts von den anderen wissen? Wie viel Verstörung toleriert ein großer Saal? 

Es gibt Orte, wo es funktioniert, wo regelmäßig volle Häuser die modernen Brasilianer, Richard Siegal oder sogar Les Ballets C de la B bejubeln. Sie heißen Ludwigsburg, Bonn, Ludwigshafen, Fürth, Neuss oder Schweinfurt, dort gibt es große Tanzreihen mit modernen Gastspielen, fast überall mit kontinuierlich steigenden Vorstellungszahlen. Festivals wie «Movimentos» in Wolfsburg und «Colours» in Stuttgart bekunden stolz ihre hohen Auslastungszahlen. Kann man einem Publikum tatsächlich Neugier anerziehen? 

«Ich glaube, dass das in jeder Stadt funktionieren würde», sagt Burkhard Nemitz, Kurator der Bonner Tanzreihe. Nach Abwicklung der Tanzsparte am Opernhaus hat er die Gastspielreihe aufgebaut: «Die Stadt hat gesagt, es gäbe kein Tanzpublikum in Bonn.» Gibt es doch, inzwischen zeigt er mehr Aufführungen als die Kollegin Hanna Koller im großen Köln nebenan – schon mal einen «Nussknacker» an Weihnachten für die Einsteiger, aber sonst gern schwierige Sachen wie Marie Chouinard. Noch besser läuft es in Ludwigsburg: «Ich glaube, unser Publikum würde keine Programmatik ablehnen, die zu modern ist. Die machen alles mit. Sie können durchaus unterscheiden, auch in der Avantgarde: Was ist gut und was ist eher Behauptung», sagt Lucas Reuter, der die Tanzreihe im Forum am Schlosspark macht. Bei seinen knapp 1000 Abonnenten geht nur eines schwer: klassisches Ballett. Damit hatte man hier einmal angefangen, damals in den 1980er-Jahren. Dann aber wurde von mehreren Kuratoren kontinuierlich ein Publikum für die Moderne aufgebaut, das heute Akram Khan und Helena Waldmann sehen will statt «Dornröschen».  

«Wie kommt man zu dem Punkt, wo die Leute die Augen und Ohren öffnen?», das ist die Kernfrage für Meinrad Huber. Er holte in Ludwigsburg einst so ziemlich alles zu den «Schlossfestspielen», was jetzt zur weltweiten Avantgarde gehört, und ist heute für das «Colours»-Programm in Stuttgart verantwortlich, wo er gezielt eine Bandbreite von Cirque Nouveau bis Konzepttanz abdeckt. Hier im Theaterhaus begann Eric Gauthier einst mit Spaßballett und landete nach zehn Jahren bei Hofesh Shechter; einige seiner treuen Zuschauer fremdeln bei Marco Goeckes Ästhetik, aber sie kommen trotzdem wieder. Gibt es anderswo zu viel «Lagerdenken», zu viele Schubladen? Genau da sieht Lucas Reuter das Berliner Problem: «Vielleicht ist es doch das eigenste Publikum, das man überhaupt haben kann, weil sie so stark in Freund und Feind denken, in einer bedingungslosen Gefolgschaft.»

«Das Lagerdenken gibt es schon bei den Machern, sowohl bei den Kulturmanagern wie bei den Künstlern», beklagt Burkhard Nemitz – kein Wunder, wenn es aufs Publikum überspringt. Fängt, wer langfristig das ganze Spektrum zeigt, tatsächlich beide Pole ein und damit das strömende, zahlende Publikum? Wichtig scheint neben der Offenheit für die verschiedensten Arten der Tanzmoderne die unbedingte, persönliche Auswahl nach Qualität und nicht nach Quoten oder Genres: «Wenn ich nicht überzeugt bin, wie soll ich dann andere überzeugen?», fragt Nemitz. Wichtig sind Kuratoren, die sehr genau mit der Größe ihrer Säle und ihres Publikums umzugehen wissen; bei Festivals, so Meinrad Huber, ist eine zentrale Spielstätte entscheidend, wo sich Publikum, Künstler und Macher begegnen können. Am allerwichtigsten aber scheint eine Konstanz über die Jahre hinweg, das langfristige Vertrauen in eine Kompanie, ein Tanzhaus, ein Festival. Augen lassen sich öffnen, genau wie Schubladen. 


Tanz Juli 2018
Rubrik: Praxis, Seite 70
von Angela Reinhardt

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