Akram Khan «Gigenis – The Generation of the Earth»
Akram Khan ist zurück auf der Bühne! So lautete die Sensationsmeldung zu «Gigenis». Und Alistair Spalding, der Leiter des Sadler’s Wells, das Khan als Associated Artist führt, war extra zur Uraufführung ins Grand Théâtre von Aix-en-Provence gekommen, um sich anzuschauen, womit sein Schützling aufwarten würde. Er schaute: die Rückkehr von Khan, nicht nur als Tänzer, sondern auch als Regisseur mit klarer Linie und feinem Händchen. So überzeugend hat man ihn lange nicht gesehen.
Und so war denn auch niemand enttäuscht, dass der Star es bei einem wunderschön schwungvollen Kathak-Solo beließ und sich ansonsten in eine Gruppe fügte, die wie in seiner vorherigen Produktion «Outwitting the Devil» (tanz 11/19) dem Mahabharata die Ehre erweist. Auf das Stück, das unseren Raubbau an der Natur ins Visier nahm, folgt mit «Gigenis – The Generation of the Earth» ein stimm- und tanzgewaltiges Tanztheater, das ganz wörtlich fragt: «Warum all die Gewalt?» Es erzählt die Geschichte zweier Söhne, deren Vater im Krieg ums Leben kam und von denen einer nun ebenfalls auf dem Schlachtfeld fällt. Doch Khan inszeniert keine Aufmärsche oder Duelle unter Waffen, sondern Trauer, Melancholie und Verzweiflung, aber auch Liebe, Freude und Hoffnung. Eine echte Familiengeschichte, begleitet von sechs Musiker*innen und Sänger*innen, in wildem Ritt durch Tradition und Aktualität. Khans Entscheidung, sich in den Line-up der Virtuos*innen einzugliedern, soll dabei spontan gefallen sein. Ist es Ironie, dass er sich im Lauf der Geschichte symbolisch steinigen lässt? Zum ersten Mal leitet Khan ein Ensemble aus Solist*innen verschiedener Tanztraditionen des Subkontinents. Ihr gemeinsames Terrain in «Gigenis» liegt nicht etwa in einem Nebeneinander der jeweiligen Stile, hier vor allem Barathanatyam und Kutiyattam, sondern in der Suche nach einer Tanzsprache der Gegenwart. Es beginnt mit einem mimischen Dialog, der nicht dem Kathakali zu entspringen scheint, sondern Pantomime auf fast schon westliche Weise interpretiert. Im Grunde legt Khan, der in London aufwuchs, selbst die reinste Form von Tradition aufs Parkett, wenn er in seinem Solo rotiert und so präzise und dynamisch wie in besten Zeiten seine Kreise zieht. An die westliche Ballettfigur des Carroussel erinnert er damit dennoch. Und die vier Musiker*innen und drei Sänger*innen, ebenfalls höchster Güteklasse, schaffen ihrerseits einen Dialog zwischen indischer Tradition, Bollywood und keltischem Folk. «Gigenis» ist Tanztheater in gelebter Interkulturalität, das im Skript wie in den Stilen die Epochen zueinander in Beziehung setzt, während die Mutter ihr Leben im Bezug zu Söhnen und Ehemann Revue passieren lässt und dabei jene Menschen repräsentiert, die sich auf der Suche nach Sinn und Trost der Religion zuwenden. Khan aber teilt seine Fragen mit uns, ohne sie beantworten zu wollen. Denn das wäre nicht im Sinn der Kunst. So bleibt uns persönlich überlassen, ob wir in dem Gleichnis von «Gigenis» Konsolation oder deren Fehlen erkennen wollen.
Wieder in London, Sadler’s Wells, 20.–24. Nov.; Paris, Théâtre des Champs-Elysées, 11.–14. Jan. 2025; www.akramkhancompany.net
Tanz November 2024
Rubrik: Kalender, Seite 38
von Thomas Hahn
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