Sein oder Nichtsein

Das Norwegische Nationalballett in Oslo widmet Jirí Kylián mit «Wings of Time» ein Festival

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Mit dem Kopf durch die Wand? Nein, das wäre nicht in Jiří Kyliáns Sinne. Aber Eintauchen in eine andere Existenz, das ist etwas, das er sich vorstellen könnte. Im Zusammenhang mit seiner Installation «Moving Still» spricht der langjährige Direktor des Nederlands Dans Theater denn auch vom Sein und vom Nichtsein, denen er auf seine Weise Gestalt gibt. Acht ehemalige Tänzer und Tänzerinnen hat er deshalb gebeten, für ein paar Minuten ihres Lebens innezuhalten – in einem von ihm vorgegebenen Moment, während ein 3-D-Scanner die nackten Körper Zoll für Zoll abtastet.

Ausgedruckt und überarbeitet, dienen ihre Avatare nicht nur als zeitweiliger Blickfang an der Glasfront des Osloer Opernhauses. Die schneeweißen Skulpturen geben vor allem dem Diesseits und Jenseits, dem Stillstand und der Bewegung eine sichtbare Bedeutung.

Denn das sind Themen, die Kylián beim ihm gewidmeten Festival «Wings of Time», ausgerichtet vom Norwegischen Nationalballett in Oslo im Frühsommer 2025, immer wieder visualisiert – sei es in Form von Filmen, von Ballettabenden, Installationen oder Gesprächen (etwa mit Mikhail Baryshnikov und Mats Ek). «Day before Tomorrow» nennt er das Eröffnungsprogramm, das auf vielfache Weise an den Tod denken lässt. Der entwurzelte Baum, der in «Wings of Wax» kopfunter die Szene beherrscht – steht er nicht sinnbildlich für die Vergänglichkeit alles Irdischen? So wie anschließend das ewige Licht in «Gods and Dogs» oder die Särge in «Bella Figura»? Vielleicht werden die drei Stücke deshalb so trotzig vom Norwegischen Nationalballett getanzt, so voller Hingabe an das Leben, das Kylián so bewegt und kontrastreich formt wie kaum ein anderer. Hochmusikalisch und den Raum füllend, lassen die Arbeiten in Oslo keinen Alterungsprozess erkennen. Wie verjüngt wirkt hier jede Aufführung.

Auf dem Eisberg
Auch im alternativen Ballettprogramm «Day after Yesterday» rückt Jiří Kylián das Hier und Heute als Wegmarke in den Mittelpunkt – diesmal allerdings ganz anders dimensioniert dank der Orchester- und Chorbeteiligung unter Vello Pähn. Vor allem bei «Symphony of Psalms» kommt die Größe des Hauses zum Tragen, das wie ein begehbarer Eisberg aus dem Hafenbecken ragt. «Forgotten Land» hingegen, ursprünglich für die wesentlich kleinere Bühne der Stuttgarter Oper choreografiert, wirkt vergleichsweise verloren. Passend allerdings zur Musik: Benjamin Brittens «Sinfonia da Requiem» thematisiert ja nicht nur die Schrecken des Krieges, sondern ebenso vorausschauend wie hochaktuell auch Umweltzerstörung und Erderwärmung.

Als umso schöner (wenn auch nicht darüber hinwegtröstend) erweist sich der «Kleine Tod», den seit dem 200. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart weltweit Tänzer und Tänzerinnen mit wahrer Hingabe sterben. Kylián spannt in Oslo «Petite Mort» kostümlich mit «No More Play» zusammen, eines der geheimnisvollsten Beispiele aus seiner Schwarz-Weiß-Periode. Und schafft so ein Gegengewicht zur nachfolgenden «Psalmensinfonie», die am Ende das «Vergängliche» als kollektives Schicksal begreift.

Zahlreiche Würdigungen
Bleibende Eindrücke hinterlässt wieder einmal «Free Fall» (tanz 8-9/17), eine Fotoinstallation zu Ehren seiner Muse Sabine Kupferberg, die mal den Apfel der Erkenntnis zwischen ihren Händen rollt, mal der nicht verlorenen Zeit nachsinnt. Ewig wechseln hier Licht und Schatten, das allerdings nicht im Uhrzeigersinn. Wie so oft in seinen Stücken hat man den Eindruck, als wollte sich Kylián damit dem Zeitverlauf entgegenstemmen. Das ist auch nebenan bei «Ensō» nicht grundsätzlich anders. Der japanische Zen-Begriff meint «Kreis», und der ist denn auch auf dem hellen Boden zu sehen: eine pechschwarze Pinselspur, die sich am Ende im Nichts zu verflüchtigen scheint. Darüber ein drehender Spiegel, dazu erklingt Arvo Pärts meditatives «Spiegel im Spiegel» als Ausdruck unseres Lebens.

Last but not least: «Emotion Pictures», «Still Moving», wie es ergänzend dazu heißt und durch neu choreografierte «Port de bras» samt Trompetenklängen von Nils Petter Molvær miteinander verbunden. Vier Filme sind da zu sehen, slapstickartig die eigene Vergangenheit reflektierend und ganz der Ästhetik des NDT 3 ergeben. Dass das zukunftsweisende Ensemble für Tänzer und Tänzerinnen jenseits der 40 seinerzeit nach ein paar Spielzeiten seinen Betrieb einstellen musste, hat Kylián lange Zeit nicht verwunden. Umso beglückender für ihn, die Zustimmung aus dem Publikum zu erfahren: Liv Ullmann, legendäre Interpretin und Gefährtin des Regisseurs Ingmar Bergman, spricht von einem der schönsten Kunsterlebnisse, denen sie beigewohnt habe.

Die Stadt Prag hat ihrem Landsmann Kylián im vergangenen Jahr eine große Ehrung zuteil werden lassen. In Den Haag feiert man ihn sowieso. Und in Oslo hat man sich für die rund 30 Choreografien, die er dem Nationalballett seit 1986 überließ, mit dem schönsten Festival überhaupt revanchiert. Tamas Detrich muss sich 2027 schon etwas ganz Besonderes für das Stuttgarter Ballett einfallen lassen, um den dann 80-Jährigen angemessen zu würdigen. Schließlich hatte ihn John Cranko dort 1968 unter seine Fittiche genommen.


Tanz Juli 2025
Rubrik: Produktionen, Seite 10
von Hartmut Regitz

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