Rollenwechsel
Ihre Ernennung zur Künstlerischen Leiterin des Litauischen Nationalballetts hat die Karriere von Jurgita Dronina als einer der weltweit gefragtesten Balletttänzerinnen zu einem vorzeitigen, gleichwohl schlüssigen Abschluss gebracht.
Vom National Ballet of Canada, ihrer künstlerischen Heimat der zurückliegenden zehn Jahre, hatte sie als Giselle bereits ihren Abschied genommen; mit der gleichen Rolle beendete sie im Januar am Opernhaus der litauischen Hauptstadt Vilnius ihre aktive Bühnenlaufbahn – dort, wo vor 20 Jahren ihre steile-Karriere begann, die sie als Principal zum Königlich Schwedischen Ballett sowie an die Nationalkompanien der Niederlande, Englands und Norwegens geführt hat.
Drei letzte «Giselles»
Am Nachmittag vor ihrer letzten Performance treffe ich Jurgita Dronina in einem holzverkleideten Büro, das wenig später zu ihrem neuen Arbeitsplatz werden soll. Ihre zahlreichen Urkunden gewonnener Wettbewerbe und Ehrungen liegen, säuberlich gestapelt, bereit, um in Kürze die Wände des Raums zu schmücken. War es schwer, gerade jetzt Abschied vom Tanzen zu nehmen? «Noch einmal drei ‹Giselle›-Vorstellungen an drei aufeinander folgenden Abenden zu tanzen, ohne dass einem alles wehtut, das ist schon ein tolles Gefühl», erwidert Dronina. «Ich mache an einem Punkt Schluss, an dem ich mein Tanzen vollauf genieße und noch nicht das Gefühl habe, ich müsste meine Beine für den zweiten Akt schonen. Am besten lässt sich mein Gefühl so beschreiben: Ich bin zufrieden.»
Auf meine Frage, ob sie bedauere, irgendeine Rolle nicht getanzt zu haben, nennt sie Anna Karenina – «nicht in der Fassung eines bestimmten Choreografen, einfach nur ihre Geschichte.» Dronina ist es nie in den Sinn gekommen, als Künstlerische Leiterin auch weiterhin zu tanzen, wie etwa Tamara Rojo noch jahrelang beim English National Ballet. «Tamaras Mission beim ENB war eine ganz andere. Ich kann nur in einem Job hundert Prozent geben, entweder als Künstlerische Leiterin oder als Tänzerin. Beides geht nicht.»
Ihre Mutter war als Litauerin nach Russland gegangen, um Schauspiel zu studieren, erzählt Dronina. «Mein Vater ist Russe. Als die Sowjetunion auseinanderfiel, kehrte meine Mutter nach Litauen zurück, um nicht in Russland festzusitzen. 1990 packte sie kurzerhand zwei Koffer, schnappte sich ihre beiden Töchter – ich war damals vier Jahre alt – und nahm den Nachtzug nach Vilnius.» Dort kam Dronina zum Ballett, als die Mutter sie einmal zu einer «Schneewittchen»-Vorstellung mitnahm. «Ich fand es wunderbar, allerdings wollte ich einer der Zwerge sein oder die böse Königin, auf jeden Fall nicht Schneewittchen!»
Kaffee in Vilnius
Das Angebot, die Künstlerische Leitung beim Litauischen Nationalballett zu übernehmen, erhielt Dronina im Oktober 2024, als sie nach dem Adieu in Kanada in Oslo gastierte und ihre Mutter in Vilnius besuchte. Laima Vilimienė, Executive Director an der Litauischen Nationaloper, bat sie um ein Gespräch. Eine Unterredung in der Kaffeepause mit glücklichen Folgen: «Ich kehrte mit dem Eindruck nach Oslo zurück, dass der Leitungsposten in Vilnius eine realistische Option war.» Vilimienė flog nach Oslo, um Dronina in George Balanchines «Diamonds» tanzen zu sehen, und machte ihr im Anschluss das konkrete Jobangebot. «Alles ging sehr schnell: Anfang Dezember kehrte ich nach Vilnius zurück, lernte die Kompanie kennen und bereitete mich auf meine neue Stelle vor.» Inklusive einer Hundert-Jahr-Feier 2026.
Über Nacht vom Tänzerberuf in eine Führungsposition zu wechseln, ist kein Kinderspiel, aber Dronina gesteht: «Mich hat die Vorstellung, irgendwann einmal einen künstlerischen Leitungsposten zu bekleiden, eigentlich immer schon gereizt, seit ich mit gerade mal 17 Jahren in München bei Konstanze Vernon studierte. Sie hat mir damals die Welt weiblicher Führungskräfte nahegebracht.» Vernon war die erste einer Reihe von Mentorinnen, mit denen sie über die Jahre zusammenarbeiten konnte: Madeleine Onne in Stockholm gehört dazu, ebenso wie Karen Kain in Kanada und schließlich Tamara Rojo und Loipa Araújo in London. «Von jeder dieser Frauen habe ich unterschiedliche Facetten von Leadership gelernt, und im Rückblick muss ich sagen, dass mich das alles für die Aufgabe vorbereitet hat, vor der ich heute stehe.»
Dronina hat freilich auch an mehreren Online-Seminaren der Harvard Business School zu Leadership und «Change management» teilgenommen. «Während des Lockdowns unterrichtete ich außerdem drei Klassen aus meinem Basement heraus – und brachte mein zweites Kind zur Welt.» Nach der Geburt ihres dritten Kindes im Jahr 2023 belegte sie ein weiteres Harvard-Modul, bei dem sie lernte, «Stärken und meinen eigenen Führungsstil zu erkennen – all das, was einen eben zu einer geeigneten Führungspersönlichkeit macht. Das hat mir geholfen, Fragen zu stellen und schwierige Gespräche zu führen, ohne mich dabei mit mir selbst unwohl zu fühlen.» Sie absolvierte zudem Fortbildungen bei «To the Pointe», einem internationalen Ballett-Beratungsunternehmen, das Spitzenkräften kontinuierlich Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung anbietet. Dronina bekam die Chance, in Stockholm im Rahmen einer einwöchigen Simulation Leitungserfahrung zu machen – «mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Außerdem schaute ich dem Chef des Königlich Schwedischen Balletts, Nicolas le Riche, über die Schulter.»
Sachte Umstrukturierung
Die nächste Spielzeit in Vilnius hat zwar noch ihr Vorgänger geplant; dennoch hat Dronina bereits einen Fünfjahresplan ausgearbeitet und sachte eine Umstrukturierung der Kompanie eingeleitet – etwa eine Veränderung der Arbeitszeiten, die zuletzt vor einem halben Jahrhundert festgelegt worden waren. Bislang arbeiteten die Tänzer*innen morgens und abends und hatten die Nachmittage frei. «Bis abends um Viertel vor neun zu arbeiten», meint Dronina, «lässt ihnen keine Zeit, sich privat weiterzuentwickeln.» Außerdem liegt ihr am Herzen, eine neue Generation heranzubilden: «Bis jetzt wurden in der Kompanie keine Zweitbesetzungen gecastet, doch ich möchte Potenziale mobilisieren. Tänzer*innen wachsen so viel schneller, wenn man ihnen das nötige Werkzeug an die Hand gibt, Gelegenheiten bietet und Vertrauen schenkt.» Zudem will sie Kollaborationen, Tourneen und eine Jugendkompanie anschieben.
Transparenz und offene Kommunikation prägen ihren Stil, es geht um einen teambasierten Ansatz. «Überkommunizieren ist immer besser als unterkommunizieren», erklärt sie mit einem Lächeln. Dass sie ihren neuen Job an der Seite einer ebenfalls neuen Geschäftsführung antritt, die die gleichen Prinzipien teilt, ist ein Glücksfall. Kaum zu glauben: Ihre letzten Vorstellungen in Kanada, Norwegen und Litauen hat Jurgita Dronina in ein und demselben Paar Spitzenschuhe getanzt. Ihre gesamte Tänzerinnenkarriere hindurch hat sie es geschafft, dass ihre Schuhe länger als eine Spielzeit durchhielten – eine absolute Ausnahme. Hunderte von nicht zertanzten Schuhen sind als Spenden kofferweise in die ganze Welt gegangen. Nun ist sie zurück in der Heimat, am Ende eines Reifungsprozesses, der schon die ersten Früchte trägt.
Aus dem Englischen von Marc Staudacher
Tanz März 2025
Rubrik: Hinter den Kulissen, Seite 58
von Graham Watts
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