Herzschlag
Es pumpt, pulsiert, bebt. Gliedmaßen zucken hervor wie Blitze in einer Hochspannungsleitung. Es ändert abrupt seine Richtung, manchmal entlässt es taumelnd und zappelnd einzelne Teile. «Es» – das ist ein Organismus ganz eigener Art. Eine mit irrsinniger Energie aufgeladene Kreatur, monströs, wunderschön. Oder weniger mystisch ausgedrückt: «Es» ist eine Gruppe von neun Tänzerinnen und Tänzern, die eng gedrängt beieinanderstehen, verschmolzen zu einer Einheit. Ein Schwarm mit höherer Intelligenz, größerer Vitalität. «Es ist wirklich ein seltsames Gefühl.
Obwohl du tust, was du tust, obwohl du die Bewegung und die Counts immer im Kopf behältst – irgendwie wird alles zur zweiten Natur, wird automatisch, als ob dich etwas übernimmt und du nicht mehr der Initiator der Bewegung bist. Das Stressgefühl beim Zählen der Counts hört auf, das Gehirn weiß, was es zu tun hat, der Körper übernimmt die Kontrolle.»
Tänzer Orazio Di Bella erzählt hier nicht von wilden Drogenerfahrungen. Er erzählt vom Group Flow. Von seinem eigenen Group Flow, in den er fast immer kam, wenn er gemeinsam mit dem Ballett am Rhein «Salt Womb» von Sharon Eyal tanzte. «Die Musik hat keine Melodie, es gibt nur diesen Klang, und wir müssen versuchen, gemeinsam die Struktur zu kreieren. Und nach einer Weile, wenn wir alle die Counts und die Spannung halten, gerate ich in eine Art Trance.»
Man braucht keinen Alkohol. Keine Pilze, kein Ecstasy, kein Dope. Auch keinen Hypnotiseur. Man braucht: Arbeit. Tatsächlich erleben die Menschen häufiger bei der Arbeit einen Flow, als bei anderen Tätigkeiten, obwohl sich ein Flow auch beim Bügeln, Spielen, Unkrautjäten und Spazierengehen einstellen kann. Ab 1975 kam ein ungarisch-amerikanischer Psychologe mit diesem Phänomen (trotz viel zu vieler Buchstaben im eigenen Namen) zu ziemlicher Berühmtheit: Mihály Csíkszentmihályi. 1934 geboren, soll er schon als Kind diesen entrückten Zustand aktiv gesucht und mit Schachspiel die Angst vor Fliegerangriffen im Zweiten Weltkrieg ausgeblendet haben. Später erforschte er das Flow-Gefühl bei Chirurgen und Extremsportlern und entwickelte die theoretischen Grundlagen.
Seitdem gilt es gerade bei leistungsorientierten Menschen als Glückszustand der besonderen Art: Leisten und Lusterleben! Im Flow ist das nörgelnde Über-Ich endlich mal verstummt, es gibt keine Angst vor Bewertung oder Kritik. Aber: «Grundsätzlich ist es wichtig, beim Group Flow wie auch beim individuellen Flow, dass die Tätigkeit eine gewisse Herausforderung darstellt, die die Gruppe aber sicher bewältigen kann.» So spricht die Wissenschaft. «Wenn wie von alleine das Zusammenspiel in der Offensive passt, die Laufwege stimmen, der Offensivspieler den Passempfänger freiblockt und im Fall eines Puckverlusts in der Defensive die Zuordnung direkt wieder stimmt.»
Zugegeben: Wir sind nicht bei der Tanz- sondern bei der Sportwissenschaft in einem Eishockeyspiel gelandet. Es spricht Fabian Pels, Sportpsychologe an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er ist Teil eines Teams, das seit gut acht Jahren über den Group Flow forscht und dafür Studien und Fragebogen-Validierungen mit mehreren hundert Probanden durchgeführt hat. Erst stand das Interesse an Gruppenprozessen. Dann kam der Fokus auf den bis dahin wenig erforschten Gruppen-Flow und seine sozialpsychologischen Aspekte. «Gruppen-Flow», sagt Pels, «ist balancierte Gruppenaktion. Also das mühelose, perfekt aufeinander abgestimmte Bewältigen einer Gruppenaufgabe. Und das führt dann bei den Teilnehmenden zu Wohlbefinden und einem Freudegefühl, das auch nach Bewältigung der Aufgabe anhält.» Oder wie Orazio Di Bella das ausdrückt: «Dann fühlt man: Ah! Wow!!!»
Das Schöne ist: Die «Aaahs» und «Wows», diese Momente des Erkennens und dann Genießens müssen nicht nur auf der Bühne bleiben. Der Group Flow einer Compagnie kann infektiös sein und auch auf die Zuschauenden übergehen, so jedenfalls der subjektive Eindruck. Fabian Pels ist da zwar vorsichtiger: «Man kann nicht zwangsläufig von der Beobachtung von außen auf das Innenleben der Gruppe schließen, dafür bräuchte es noch mehr empirische Forschung.» Aber auch er gesteht einen «positiven Zusammenhang zwischen erlebtem und wahrgenommenem Group Flow» zu.
Das kennen nicht nur Fans von Sharon Eyals spektakulären Raves mit hochvirtuoser zeitgenössischer Tanztechnik, nicht selten auch auf Spitzenschuhen. Das erlebt man immer wieder in Stücken mit exzellent choreografierten Gruppenszenen. Beispiel: In der Musik wiederholt eine Trommel 169-mal dasselbe treibende Motiv. Die Lautstärke schwillt langsam an. Dazu eine eng zusammenstehende Gruppe aus fünfzig Körpern, jeder Muskel angespannt, trotzdem lavieren sie weich wie Schlingpflanzen unter Wasser, die Augen konzentriert und entrückt, die Lippen geöffnet. Eine Ekstase aus Kraft und lasziver Sinnlichkeit. Das ist «Bolero X». Das ist der erotischste Ohrwurm der klassischen Musik in der Interpretation des israelischen Choreografen Shahar Binyamini. Berauschend. «Der Flow ist der wichtigste Aspekt in meinen Kreationen. Ich versuche in meinen Choreografien immer, mehr und mehr hinzuzufügen, dabei aber den Flow nicht zu unterbrechen. Flow ist sehr schwer zu definieren. Aber es ist so klar, wenn etwas nicht im Flow ist.» Binyamini schüttelt den Kopf, lacht kurz und ergänzt: «Dann ist es in gewisser Weise ohne Leben.» Seit 2016 tourt der 1988 geborene Shahar Binyamini als neuerer Stern aus dem Kosmos von Ohad Naharin mit eigenen Choreografien. Davor war er sieben Jahre lang bei der famosen Batsheva Dance Company, war einer der Gurus der Gaga-Technik und Mitgründer von TNUDA, einer Forschungsgruppe am renommierten Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel, in der Fragen zu Bewegung und Gesundheit mit choreografischen Praktiken verknüpft wurden.
Als wir sprechen, choreografiert Binyamini gerade für eine Show im Berliner Friedrichstadt-Palast: Eine zehnminütige Sequenz für 40 Tänzerinnen und Tänzer. Und kein Zweifel: Auch zwischen Glitter und Glamour soll er entstehen, der Group Flow. Gefragt, ob es Bewegungen gibt, die einen Group Flow besser auslösen als andere, schaut er eine Weile nach oben, als hätte nur der Himmel die Antwort: «Es darf kein Ende und keinen Anfang geben. Es geht nicht um eine einzelne Bewegung, sondern um eine Bewegung, die begonnen hat, bevor wir überhaupt zu tanzen angefangen haben, und die niemals enden wird. Die Bewegung ist da wie der Atem, wie der Herzschlag, wie das Blinzeln. Es geht nur darum, sie nicht zu blockieren.»
Zurück zur Wissenschaft: Neben der herausfordernden, aber bewältigbaren Aufgabe braucht es auch eine positive Beziehungsqualität zwischen den Gruppenmitgliedern, braucht es Vertrauen. Und anders als beim individuellen Flow ist der Fokus beim Group Flow zweigeteilt: «Parallel Processing» nennt das Flow-Fachmann Fabian Pels: Einerseits achtet man auf seine eigene Teilaufgabe. Andererseits aber auch darauf, was die anderen tun und richtet sich darauf aus. Dabei müssen
gar nicht alle dasselbe machen. Unisono-Sequenzen im Tanz haben zwar Wucht, aber für den Group Flow sind sie nicht entscheidend. Denn laut der «Optimal Distinctiveness Theory», der «Theorie der optimalen Unterscheidbarkeit», wollen Menschen in Gruppen zwei gegensätzliche Bedürfnisse erfüllen: Sie wollen sich zugehörig fühlen, aber auch einzigartig. Es hilft also für den Group Flow wahrscheinlich sogar, wenn nicht alle die gleiche, sondern sich ergänzende Aktionen machen. «Komplementarität hat den Vorteil, dass man etwas zur Gruppe beisteuert, was die anderen nicht haben, man also an die Gruppe anknüpft, aber auch sein Bedürfnis nach Individualität befriedigt», so der Experte.
Aber wie steht es heute um unsere Flow-Fähigkeit, in einer Zeit, in der wir laut Studien alle vier Minuten den Fokus verlieren und süchtig nach dem Blick aufs Handy sind? Im letzten Jahr, erzählt Pels, hat sein Institut eine Pilotstudie zu der Frage durchgeführt, ob die Smartphone-Nutzung einer Mannschaft vor dem Training das Group-Flow-Erleben während des Trainings beeinträchtigt. «Es zeigte sich tatsächlich die Tendenz, dass die Group-Flow-Werte einer Mannschaft geringer waren, wenn die Spieler vorher mit Handy in der Kabine saßen.» Allerdings ist noch nicht erforscht, ob es konkret an der digitalen Ablenkung lag oder an der Tatsache, dass sich die Spieler eben nicht mental auf die gemeinsame Aufgabe eingestimmt haben.
«Wir sind so privilegiert zu sagen, wir hätten Schwierigkeiten uns zu fokussieren», spöttelt Binyamini über solche Wohlstandsprobleme wie Aufmerksamkeitsdefizite. Ja, die Welt sei dynamischer geworden, aber: «Jeder ist verantwortlich für die eigene Diät, was und wie viel man zu sich nimmt.» Auch für Orazio Di Bella ist weniger die Ablenkung das Problem, als die Kultur des Vergleichens, die durch die Social Media getriggert wird: Wie soll man sich auf andere einlassen, wenn man sich permanent miteinander misst? «Für mich ist das Wichtigste beim Group Flow, dass man Vertrauen schafft, das Gefühl, eine Einheit zu sein, und nicht, dass man höhere Beine hat und mehr Pirouetten schafft.»
Das sagt einer, der durchaus die «höheren Beine und mehr Pirouetten» drauf hat, der mit famoser Technik, selbstverschwenderischem Biss und Sexappeal das Zeug zum herausragenden Solisten hat. Trotzdem liebt Orazio Di Bella die Power des Teamgeists, und nie hat er sie stärker erlebt als in William Forsythes «One Flat Thing, reproduced». Hier gibt die Musik gar keine Cues mehr, sie ist auf einen wummernden Sound reduziert. Zwischen gefährlich scharfkantigen Tischen müssen sich die Tänzerinnen und Tänzer untereinander die Einsätze geben, in atemberaubendem Tempo: «Wenn sie den Arm hebt, muss er losrennen, was den Cue gibt für den nächsten Tänzer und immer so weiter.» 25 Minuten Höchstkonzentration. Und: Höchstleistung, jedenfalls, wenn ein Group Flow einsetzt. Denn nie sind wir besser, als wenn wir im Flow sind. Dabei ist der Gruppen-Flow immer mehr als die Summe individueller Flows. Er sei, betont Pels, ein «eigenständiges, emergentes Phänomen». Frage an den nüchternen Wissenschaftler: Ist der Group Flow auch eine spirituelle Erfahrung? «Es ist definitiv etwas Exzeptionelles. Und ja: Es ist durchaus eine spirituelle Form des Erlebens.» Shahar Binyamini dagegen sträubt sich: «Ich weiß gar nicht, was das ist: Spiritualität. Das lässt sich doch alles nicht trennen. Es ist alles eins: Spiritualität ist Kreativität ist Flow ist Tanz ist Menschsein.»
Man muss es wohl einfach erleben. Oder wenigstens beobachten in betörenden Ensemble-Choreografien. Der Mensch, dieser oft so empathielose Egomane, er ist halt doch auch ein soziales Tier. Darin liegt die utopische Kraft des Group Flow. Erkennt es und genießt es. Ah! Wow!!!
Tanz Jahrbuch 2025
Rubrik: Flow, Seite 18
von Nicole Strecker
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