Bauchgefühl

Ballerina, Tanz-Double, Schauspielerin: Seit «Étoile» kommt Constance Devernay-Laurence kaum mehr zum Ausspannen. Aber sie nahm sich Zeit für Graham Watts

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Kaum zu glauben: Obwohl Constance Devernay in Amiens zur Welt kam und ihre Ballettausbildung an der PNSD Rosella Hightower in Cannes absolvierte, war sie zum Zeitpunkt unseres Gesprächs in den 17 Jahren ihrer Karriere als Balletttänzerin noch nie professionell in Frankreich aufgetreten. Das sollte sich allerdings bald darauf ändern.

Nachdem Constance – im Freundes- und Familienkreis «Coco» genannt – als junges Mädchen Absagen seitens der Pariser Opernschule und der Royal Ballet School kassiert hatte, erhielt sie schließlich eine Zusage der English National Ballet School und machte sich auf den Weg über den Ärmelkanal. Da war sie 15. «Da wurde mir dann auch klar, dass ich aus dem Tanz eine Karriere machen wollte», erinnert sie sich. Ashley Page, damals Leiter des Scottish Ballet, der dem Unterricht zugeschaut hatte, bot ihr seinerzeit einen befristeten Vertrag für eine Rolle in «The Sleeping Beauty» an. Dieser Vertrag wurde kurze Zeit später verlängert, sodass Devernay die Compagnie auf einer China-Tournee begleiten konnte, bevor sie schließlich fest engagiert wurde.

Sci-Fi-Swanilda und Serienstern
Schottland war anfangs ein kleiner Schock für sie: «In London hatte ich keine Probleme gehabt, da mein Englisch recht gut war. Doch dann kam ich in Schottland an und konnte plötzlich niemanden mehr verstehen!» Dennoch fasste sie schnell Fuß. «Am Anfang gab ich mir drei Jahre und wollte dann andere Compagnien ausprobieren, doch nach dem Leitungswechsel – 2012 übergab Page an Christopher Hampson – wurden viele Tänzerinnen und Tänzer befördert, also blieb ich noch.» Und so wurde auch Devernay 2014 zunächst Solistin und zwei Jahre darauf Principal Dancer. «Mit dem Scottish Ballet auf Tournee zu gehen, ist wunderbar, außerdem reise ich ja ohnehin gerne», sagt sie und nennt damit gleich noch einen Grund für ihr Bleiben. Es gab freilich noch einen weiteren, und der war privat: Sie verliebte sich in den Solisten Jamiel Laurence. Die beiden heirateten 2022, seither kennt man die Tänzerin als Constance Devernay-Laurence.

Von den vielen Partien, die sie verkörpert hat, wurde die Science-Fiction-Swanilda in der Silicon-Valley-«Coppélia» von Jess & Morgs (Morgann Runacre-Temple und Jessica Wright) gleich in zweifacher Hinsicht zum Sprungbrett für Devernay-Laurence: Zum einen durchbrach sie mit diesem Rollenporträt die übliche Londoner Dominanz bei den «UK National Awards», indem sie den «Outstanding Female Classical Performance Award» des Jahres 2022 abräumte (ein Jahr nach Natalia Osipova und ein Jahr vor Tiler Peck). Zum anderen beeindruckte ihre ausdrucksstarke Interpretation der humanoiden Swanilda die für die Besetzung der Amazon-Prime-Serie «Étoile» (tanz 5/25) zuständige Casting-Agentur. Die Caster besetzten Devernay-Laurence als Melanie, eine der Tänzerinnen in der fiktiven Pariser Compagnie, die in der Serie mit einer ebenso fiktiven New Yorker Truppe die Stars tauscht. Schon kurz nach Drehbeginn rekrutierte man Devernay zudem noch als Tanz-Double für die Schauspielerin Lou De Laâge aka Cheyenne Toussaint, Starballerina. Da für die Dreharbeiten mehrere Monate angesetzt waren, musste Devernay-Laurence in den sauren Apfel beißen und das Scottish Ballet verlassen.

Die Transition zum Schauspiel verlief indes nicht so glatt, wie sie es sich erhofft hatte. Dazwischen kam: der Streik der Hollywood-Schauspielerinnen und -Schauspieler, der die Dreharbeiten um ein halbes Jahr verzögerte. Ihr Ehemann konnte die finanzielle Lücke, die sich dadurch auftat, mit seinen tourenden «Ballet Nights»-Produktionen füllen. «Zum Glück», fügt Devernay-Laurence hinzu, «konnte ich bei einigen der Vorstellungen mittanzen, sodass ich in Form blieb.»

Zwei Agenturen am Start
Mit der Filmproduktion ging es schließlich im Februar 2024 los, und Devernay-Laurence verbrachte die Dreharbeiten (die bis November dauerten) entweder in Paris oder in New York. Fand sie es schwierig, ihren Text zu lernen, zumal sie bis dahin noch nie auf der Bühne gesprochen hatte? «Nicht wirklich», sagt sie, «als Tänzerin muss ich ja auch spielen, und ich habe schon mit vielen Dramaturgen an Handlungsballetten gearbeitet, zum Beispiel an ‹A Streetcar Named Desire›.» Die Tänzer*innen, die man für «Étoile» engagiert hatte, bekamen keinen gesonderten Schauspielunterricht. «Wir haben vor Ort alles Nötige gelernt», erklärt sie und fügt hinzu: «Obwohl ich in meinem Leben noch nie so gestresst war, weil wir ja mit fantastischen Schauspielern wie etwa Simon Callow zusammenarbeiteten. Auch nur ein einziges Wort in deren Gegenwart zu sprechen, war natürlich total gruselig.» Nach dem Ende der Dreharbeiten machte das junge Ehepaar erst einmal eine verspätete Hochzeitsreise auf die Malediven. Danach begann für Devernay-Laurence die berufliche Doppelexistenz als Tänzerin und Schauspielerin. Inzwischen wird sie von zwei Agenturen vertreten: StageField Entertainment in München kümmert sich um alle tänzerischen Belange, Aston Management um Aufträge in der kommerziellen Schauspielbranche.

Multitasking? Aber unbedingt!
Trotz des spektakulären Erfolges von «Étoile» mit zwei «Emmy»- Nominierungen wurde die geplante zweite Staffel abgesagt. Immerhin wurde Devernay-Laurences von Christopher Wheeldon choreografiertes Solo «I Married Myself», das sie im Film als De Laâge-Double tanzt, unterdessen für die Bühne adaptiert und im Rahmen der «Ballet Nights»-Reihe präsentiert. Die nächste Station ihrer Tänzerinnen-Karriere ist nun beim London City Ballet, das Christopher Marney nach 30-jähriger Unterbrechung 2023 wieder zum Leben erweckte. Devernay-Laurence wird im Rahmen des Programms «Momentum» mit Werken von George Balanchine, Liam Scarlett und Florent Melac zu sehen sein. Ebenfalls Bestandteil ist Alexei Ratmanskys «Pictures at an Exhibition». Die Zusammenarbeit mit dem Choreografen beschreibt Devernay-Laurence als «hundertprozentig». «Er ist wunderbar, sehr motivierend und extrem geduldig. Er pusht seine Tänzerinnen und Tänzer bis an Grenzen, die zu erreichen man sich niemals hätte vorstellen können.» Über Marney, den Künstlerischen Leiter des London City Ballet, sagt sie: «Das Tolle an Chris ist, dass er seine Tänzerinnen und Tänzer dazu motiviert, eigene Erfahrungen mit in die gemeinsame Arbeit einzubringen. Ich persönlich möchte nicht immer nur stur eine einzige Sache machen und sonst gar nichts», fügt sie noch hinzu. «Ich bin gerne vielbeschäftigt, und Chris versteht und unterstützt das.»

Mit «Momentum» wird sie nun also ihr eingangs erwähntes Frankreich-Debüt geben. Endlich wird ihre Familie die Tochter in der Heimat tanzen sehen. «Sie kommen am Geburtstag meiner Mutter im Oktober zur Vorstellung in Salon-de-Provence», freut sich Devernay-Laurence schon im Voraus. Sie will auch weiterhin regelmäßig im Rahmen von «Ballet Nights» auftreten, zum Ende des Jahres die Zuckerfee in einer «Nussknacker»-Produktion in Rumänien tanzen und auch die kommende Spielzeit beim London City Ballet bleiben. Was die Terminkalender der beiden Eheleute angeht, geben sich Constance und Jamiel sozusagen die Klinke in die Hand. «Wir haben kaum die Zeit, einander zu erzählen, wie unser Tag war», seufzt sie.

Obwohl sie beim Scottish Ballet über viele Jahre hinweg eine sichere und solide Karriere verfolgt hatte, bekommt man doch den Eindruck, dass Constance Devernay-Laurence im Grunde ein risikofreudiger Mensch ist. Sie hat keine Angst davor, sich in neue Erfahrungen zu stürzen. Das sieht sie selbst ähnlich: «Ja, ich denke, ich folge immer meinem Bauchgefühl. Ich meine, ich war gerade mal zwölf, als ich von zu Hause weg nach Cannes ging! Aber ich wusste, dass es richtig war. Mit ‹Étoile› war es das Gleiche, und auch, als man mir anbot, beim London City Ballet zu tanzen, dieser Compagnie, die ja quasi zum zweiten Mal in den Kinderschuhen steckt. Mir war klar: Du wirst es irgendwann bereuen, wenn du all diese Gelegenheiten ausschlägst!» Aus dem Englischen von Marc Staudacher

«Momentum», wieder in Frankreich:
Reims, 1. Oktober; St.-Germain-en-Laye, 4. Oktober; Mérignac, 7. Oktober; La Ciotat, 9. Oktober; Salon-de-Provence, 11. Oktober; Romans-sur-Isère, 14. Oktober; Istres, 16. Oktober;
in Spanien: Logroño, 23. Oktober; Santander, 25. Oktober;
in Großbritannien: Oxford, 11. November; York, 14., 15. November; London, Linbury Theatre, 19.–22. November; www.londoncityballet.com

RATMANSKY, BALANCHINE, SCARLETT, MELAC ET AL. «MOMENTUM»

Die erstaunliche künstlerische Reife des London City Ballet kommt im Rahmen des gemischten Programms «Momentum» eindrucksvoll zur Geltung. Im Sadler‘s Wells durfte man zehn Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie dabei zusehen, wie sie Alexei Ratmanskys Visualisierung von Modest Mussorgskys Meisterwerk «Pictures at an Exhibition» in einer wahrhaft herausragenden Performance tanzten: schräg, divers, schwungvoll und voller Temperament. Einen ganz eigentümlichen Charme besitzt aber auch George Balanchines «Haieff Divertimento», eine in fünf Abschnitte gegliederte Choreografie für fünf Paare. Eines davon, das Duo Jimin Kim und Alejandro Virelles, ragt an diesem Abend besonders heraus. «Consolations and Liebestraum» ruft nicht nur Liam Scarletts choreografisches Ausnahmetalent in Erinnerung, sondern führt zugleich die ungebrochene künstlerische Kraft von Alina Cojocaru vor Augen, die die packende Choreografie mit dramatischer Schmerzlichkeit ausfüllt.

Und «Soft Shore» schließlich heißt eine neue Arbeit des Nachwuchs-Choreografen Florent Melac: wirbelnde und fließende Duette voller dramatischer Hebungen, die sich elegant und hypnotisch an Beethoven-Klänge anschmiegen. Dazu: erstklassiges Partnering von Constance Devernay-Laurence und Alejandro Virelles ebenso wie von den beiden Herren Joseph Taylor und Arthur Wille – Letzterer ein sichtlich vielversprechendes Nachwuchstalent.


Tanz Oktober 2025
Rubrik: Menschen, Seite 20
von Graham Watts

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