Stirb und werde

Mit «Delay the Sadness» ist Sharon Eyal wieder ein Wurf gelungen. Bei der Uraufführung in Bochum war Nicole Strecker

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Wie mag es sich anfühlen, derzeit als israelische Choreografin ein Stück zu kreieren? Wie schwer ist die Bürde und wie lähmend die Erwartung, dass in der Kunst mit dem umgegangen wird, was in der Heimat passiert? Mit all dem Hass. Mit den Folgen der unvorstellbaren Gewalt der Hamas. Der Wut der Geisel-Angehörigen auf die Netanjahu-Regierung. Der Trauer um die vielen Opfer, der Schuld, die das grausame Vorgehen im Gaza-Streifen über das Land bringt. Und mit der Perspektivlosigkeit: Frieden und Verständigung mit den Nachbarn? Eine Zweistaatenlösung? Wohl aussichtslos.

Schon in der Vergangenheit wurde jedes Stück eines israelischen Tanzschaffenden abgescannt nach Statements zum Nahostkonflikt, wurden aggressive oder traurige Stimmungen in den Choreografien zurückgeführt auf eine Nation unter ständiger Bedrohung. Und jetzt, wo nicht nur die Nachrichten uns täglich den Krieg in die Timeline spülen, sondern bei Gastspielen im Ausland die Zuschauerinnen und Zuschauer mit verschärften Sicherheitsvorkehrungen konfrontiert werden, wo ihnen oft beim Einlass die Rucksäcke abgenommen und die Taschen durchsucht werden, wo der Aufführung vielleicht sogar propalästinensische Demonstrationen vorangingen – jetzt ist also unvermeidbar klar: Hier schaut keiner einer israelischen Choreografin mehr zu, ohne vorher politisiert worden zu sein.

Immerhin – die «Ruhrtriennale» wollte trotz angespannter Weltlage dezidiert cool bleiben: keine speziellen Checks am Einlass zur Uraufführung. Die Besucherinnen und Besucher des neuen Stücks von Sharon Eyal wanderten wie bei anderen Aufführungen auch durch die gigantische Jahrhunderthalle in Bochum. Und schon der kleine Fußmarsch durch die tiptop restaurierte, dämmrige Industrieruine, unter sich kathedralhaft erhebenden Stahlträgern, Rohren, Kränen, bis man final am Platz angelangt ist, wirkt wie ein langsamer Übergang in eine verheißungsvoll anachronistische, hoch-designte Kunstwelt. Wohl kaum ein anderes Festival bietet diese spezielle Weltentrückung so intensiv wie die «Ruhrtriennale».

Trotzdem überrascht es dann, wie sehr die als Rave-Madonna bekannte israelische Choreografin Sharon Eyal ihre Zuschauer und Zuschauerinnen aus der Gegenwart herauskatapultiert. Statt wie in früheren Stücken der schnelle Techno-Beat, wummert diesmal ein Dreivierteltakt in imposanter Lautstärke aus den Boxen. Acht Tänzerinnen und Tänzer treten auf. Sie schreiten in synchroner Eleganz, heben die Arme in manierierten Geometrien. Eine mehrfach wiederholte Geste sieht aus, als böten sie einer unsichtbaren Herrschaft auf einem über Kopf gehobenen Tablett etwas dar. Das ist: höfisches Menuett, oder zumindest eine deutliche Reminiszenz daran. Wir sind also bei den Ursprüngen des klassischen Balletts, als dem Tanz das Korsett angelegt wurde und er die Utopie von Schönheit zu transportieren hatte, von Struktur und vor allem: Contenance – Gefühle hier bitte nur, solange sie gut anzusehen sind.

Androide Kunstwesen – wunderschön und bizarr
Kontrollzwang und Kontrollverlust: Zwischen diesen Polen spannten sich seit jeher die Stücke von Sharon Eyal auf. Schon immer schien es in den Tänzerinnen und Tänzern ihrer Choreografien zu brodeln, schien der emotionale Ausbruch mühsam diszipliniert durch perfekte Formen und Patterns. Das sah in den Bewegungen nicht immer nach Ballett aus, transportierte aber doch seine Grammatik. Denn auch die 1971 in Jerusalem geborene Sharon Eyal hat die Danse d’école durchlaufen. Als kleines Kind kommt sie zum Ballett, will klassische Ballerina werden. In der Pubertät ändert sich das. Mit 19 Jahren ist sie Mitglied bei der Batsheva Dance Company von Ohad Naharin. Der entdeckt ihr choreografisches Talent. Er nimmt sie 2003 ins künstlerische Leitungsteam von Israels wichtigster Compagnie auf, macht sie 2005 zur Hauschoreografin. In dieser Zeit begegnet sie Ori Lichtik und Gai Behar, zwei Techno-Produzenten und Veranstalter von Raves in Tel Aviv. Behar und Eyal werden ein Paar und ein künstlerisches Team, sie gründen gemeinsam die Compagnie L-E-V, hebräisch für «Herz». Der dritte, Ori Lichtik, wird die nächsten zehn Jahre den Sound dieser Compagnie prägen, mit gewaltigem, hypnotischem Techno, dem oft rasend schnellen Puls von Sharon Eyals Choreografien. Ein Erfolgs-Trio. Renommierte Ensembles wie das Nederlands Dans Theater, die Opéra national de Paris, GöteborgsOperans Danskompani, das Staatsballett Berlin wollen Stücke von Sharon Eyal. Bald gilt sie neben Hofesh Shechter als aufregendstes Talent aus Ohad Naharins Gaga-Schule, entwickelt aber ihre ganz eigene Ästhetik. Wo Shechter rockt, ravt sie als Techno-Queen des zeitgenössischen Balletts, präsentiert sich selbst auf ihrer Homepage sehr edgy im schwarzen Lack-Catsuit, oft auch mit verwischtem Lidstrich wie nach durchtanzter Nacht. Zuletzt allerdings arbeitete sie nicht mehr mit Ori Lichtik, sondern mit wechselnden Musikern zusammen. In ihrem neuen Stück «Delay the Sadness» ist das der Sounddesigner Josef Laimon. Weniger puristisch, weniger individuell in seinem Stil mischt er unerschrocken schon mal andere Klänge und Muster in die immer noch wummernden Beats: orchestrale Elemente, Anklänge an Kirchenmusik, Geräuschfetzen und eben auch einen harmonisierenden 1-2-3-Rhythmus.

Aber auch wenn die fantastischen Tänzerinnen und Tänzer ihrer Compagnie hier erst mal wohlgeordnet zum Menuett auf die Bühne schreiten – eine Sharon Eyal ist immer noch unverkennbar: Sharon Eyal. Mit Akteuren und Akteurinnen wie androiden Kunstwesen. Maschinenhaft und doch unglaublich sexy. Wunderschön und zugleich fratzenhaftbizarr. Und mit Choreografien wie laszive Körper-Dressuren, die von unseren großen Leidenschaften erzählen, von der Liebe und wie sie in den Leibern wütet. In der Vergangenheit hatten schon Outfits von Diors Chefdesignerin Maria Grazia Chiuri eine atemberaubend erotische Optik garantiert. Diesmal greift Eyal mit von ihr selbst entworfenen Kostümen Chiuris Stil auf: beigefarbene Bodys aus hauchdünnem Stoff wie eine zweite Haut, die jede Rippe, jeden Muskel durchscheinen lässt. Darauf zarte rote Linien, die sich auf dem Brustkorb knubbeln wie dunkle Venen, die das verbrauchte Blut zum Herzen transportieren. Das Liebes-Organ ist also mal wieder im Fokus – ein vertrautes Motiv, ein vertrauter Look.

Und auch das ist typisch Eyal: Ihr Tanz bewahrt sorgsam sein Mysterium. Er kommuniziert zwar, das schon, ist aber nicht wirklich lesbar. Vor Jahren erklärte sie einmal vage, jedes ihrer Stücke erzähle von ihr selbst. Das hieß auch: zumindest nicht explizit von Israel, nicht vom Nahostkonflikt. Aus Tel Aviv ist sie weggezogen. Sie lebt in Frankreich, hat ihre Compagnie 2022 umbenannt in S-E-D, Sharon Eyal Dance, schließlich ist ihr Name längst eine Marke. Und schon vor der Eskalation 2023 gab die Exil-Choreografin keine Statements ab zur Situation in ihrer Heimat. Sie habe keine politische Agenda, wehrte sie Nachfragen ab. Einem Gesinnungstest, wie er heute zunehmend von israelischen Künstlerinnen und Künstlern eingefordert wird, dürfte sie sich wohl auch künftig verweigern. Ob sie mit ihrer Kunst kommentiert? Ob das Entsetzen über das Geschehen in ihrem Geburtsland die Dunkelheit in ihren Stücken grundiert?

Das Sterben der Mutter
Es steht wohl jeder und jedem frei zu interpretieren, wie sie oder er will. Einen kleinen Hinweis gibt Eyal allerdings schon im Programmheft, was sie zu ihrem neuen Stück bewegte – vielleicht auch nur, um nicht beliebig zu wirken. In ein paar assoziativen Zeilen schreibt sie da: «Fortschreibung des Lebens nach dem Tod – Fortschreibung der Traurigkeit und Reinheit – Fortschreibung der Mutter». Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass dieses Stück eine Hommage an die vor zwei Jahren gestorbene Mutter der Choreografin sein könnte, mit Motiven wie Fruchtbarkeit, Schwangerschaft, Tod und vielleicht auch deswegen: der ausgestellten Contenance. Denn wer bläute sie den Töchtern eindringlicher ein als die Mütter? So ließe sich das titelgebende «Delay the Sadness», «verschieb die Traurigkeit», auch wie die poetischere Version von «reiß dich zusammen» lesen. So mancher, manchem dürfte das als mütterlicher Imperativ vertraut sein.

Die Frauen tragen viel kreisrundes Rouge im Gesicht, was sie wie Püppchen aussehen lässt, oder vielleicht auch an die besondere Schminke in Nijinskys Fruchtbarkeits-Tanz «Sacre du printemps» erinnert. In Momenten tupfen sich die Tänzerinnen und Tänzer mit gespreizten Fingern auf die Brustwarzen – keine seltene Geste im Swingerclub-Repertoire von Sharon Eyal. Aber in diesem Kontext lässt sie auch an das berühmte Renaissance-Gemälde «Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern» denken. Darauf zwickt eine nackte Frau der anderen in die Brust, was gemeinhin als Anspielung auf Schwangerschaft gelesen wird. Alles in der Choreografie signalisiert das Streben nach maximaler Selbstbeherrschung, eine Zehenspitzen-delikate Sehnsucht nach heiler Welt. Nur grätscht dann eben der nie ganz kontrollierbare Körper dazwischen: Da ruckelt und zuckt plötzlich ein Gelenk. Eine Tänzerin schlägt die Hand vor den Mund, während ihr Körper sich wellenartig krümmt als würge es sie. Und alle greifen sich immer wieder an den Hals als müssten sie ersticken.

Da gärt ein wilder Schmerz in dieser perfekt strukturierten Choreografie, die so meisterhaftes Timing hat, so reduziert ist auf ihre Essenz, dass in keiner Sekunde die Konzentration wegbricht. Auch dann nicht, wenn Sharon Eyal sich in der Schlusssequenz viel Zeit nimmt und zu gewaltigen Chorälen einem sich wehrenden Frauenkörper ganz langsam die Energie entzieht, der Mund der Tänzerin ist geöffnet als wolle sie schreien oder ringe um Atemluft. Es ist, als sähe man hier dem gewalttätigen Akt des Sterbens zu. Der menschliche Kampf um Kontrolle – er wird am Ende immer verloren. Eine qualvoll-traurige Szene, die lange nachhallt, wenn man langsam die Bochumer Kulturkathedrale wieder verlässt. Und das News-Update zur Wirklichkeit, es kann jetzt erst mal warten.

Wieder «Baku International Festival», Aserbaidschan, 1., 2. November; St. Pölten, Festspielhaus, 8. November; Paris, La Villette – Espace Chapiteaux, 27.–30. November, 3.–6. Dezember; www.sharoneyaldance.com


Tanz November 2025
Rubrik: Produktionen, Seite 6
von Nicole Strecker

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