Rivalität
Maria X ist Kuratorin für digitale Künste, Chefredakteurin des «International Journal of Performance Arts & Digital Media» und Gastprofessorin an der Kingston School of Art in London. Im Festspielhaus Hellerau kuratierte sie gemeinsam mit Bika Rebek Ende Oktober das Symposion «Black Box White Cube XR» – ein Branchentreff der Dance-Tech-Szene, die den Tanz um die Möglichkeiten digitaler Medien erweitert: Die perfekte Gelegenheit, mit ihr über die Zukunft des Tanzes zu sprechen.
Maria Chatzichristodoulou, Sie nennen sich Maria X, dankenswerterweise.
Hier sitzen wir beide auf einer realen Bank im Park, die Sonne scheint, Vögel zwitschern, während unbemerkt dieses kleine Gerät unser Gespräch belauscht und dank künstlicher Intelligenz im Hintergrund daraus ein Interview herstellt. Bemerken wir die Digitalität noch?
Natürlich bemerken wir sie. Digitale Technologien werden immer sichtbarer. Zum Auftakt der «Hybrid Biennale» in Dresden dirigierte ein dreiarmiger Roboter drei Orchester gleichzeitig. Das kann der menschliche Körper nicht. Wir schaffen uns Roboter, denen wir beibringen, sich menschlich zu bewegen und zu verhalten. Das Digitale, so sehe ich das, wird immer körperlicher, auch bei der Kognition: Eine KI lernt selbsttätig, um die Bewegung eines künstlichen Körpers mit der Umgebung abzustimmen.
Wohin führt das, aus der Sicht der Künste?
Gerade erst ist ein Porträt von Alan Turing, gemalt von einem Roboter namens Ai-Da, bei Sotheby‘s unter den Hammer gekommen. Roboter dringen in die Kunstwelt ein, können Musik komponieren und vielleicht auch ein Ballett choreografieren. Die Werke von Paul Brown, einem Pionier der Computerkunst, sind heute im Victoria and Albert Museum in London ausgestellt. Galeristen reißen sich darum. Aber als sie erfuhren, dass die Bilder nicht von Brown, sondern von einem Computer stammen, war das Interesse erst einmal null. Seit dem Hype um KI und um Roboter, vor allem, wenn sie das Aussehen einer jungen, attraktiven Frau annehmen, dreht sich der Wind. So sind wir Menschen.
Sehen Sie Ähnliches auch im Tanz?
Natürlich. Vali Lalioti ist bei uns zu Gast, die schon in den 1990er-Jahren die Virtual Reality in Deutschland eingeführt hat. Sie fragt sich, wie die Mensch-Maschine-Interaktion in zwanzig Jahren aussehen wird. Noch haben Tanzende ein distanziertes Verhältnis zu ihren nichtmenschlichen Partnern. Aber das war vor zwanzig Jahren auch nicht anders, als erstmals Tänzer vor Projektionen auftraten und hofften, dass die Projektionen nicht stärker sind als sie selbst. Heute fragt selbst die Industrie bei der Tanzwelt an, um Bewegungen in virtuellen Umgebungen natürlicher wirken zu lassen. Denn noch ruckeln die Avatare und wirken eher wie Puppen als wie wirklich Tanzende.
Haben Sie je einen überzeugenden Tanzroboter gesehen?
Noch nicht. Aber es wird eines Tages geschehen. Ich als Körper interessiere mich einfach viel mehr für die Fähigkeiten dieses Körpers. Wenn selbst wir Menschen oft weit von diesen Fähigkeiten entfernt sind, wie soll mich da ein Roboter faszinieren? Bei der Virtuellen Realität wird schon weitergedacht. Noch vor zehn Jahren hätte man gesagt: «Oh, die Figur bewegt sich klobig. Das ist nicht überzeugend.» Heute gibt es Aoi Nakamura und Esteban Lecoq, die – beide aus der Tanzwelt kommend – adhoc Vorreiter geworden sind, weil ihre Arbeit es schafft, den Körper und digitale Umgebungen so miteinander zu verbinden, dass sie nichts an Fleischlichkeit einbüßen. Die beiden sind völlig angstfrei, was die Entwicklung von Computern, maschinellem Lernen und Robotik betrifft. Dazu kommen die gewaltigen Möglichkeiten, wie KI sich selbst verkörpert und körperlich berühren kann. Ich denke, die Tanzkunst wird sich viel mehr in diese Richtung bewegen.
Keine Bedenken?
Nein. Es geht weiterhin um den Menschen, um seine Synapsen. Ich bin sicher, dass auch auf diesem Gebiet Schönheit existiert, dass es bewegende und tiefgründige Live-Momente in der Verschmelzung von Tanz und Technologie gibt, die eben nicht aus dem Antagonismus besteht: Hier der warme Körper, dort der kalte Schein. Unser Denken ist, anders als das der Computer, nonbinär.
Wirklich keine Bedenken?
Gut. Was gibt es, das wir schützen, bewahren oder im Auge behalten müssen, wenn nun diese Übergänge stattfinden zwischen Mensch und Maschine? Ich arbeite an einer Universität. Wir lehren die Studierenden aufzutreten, Kostüme und Bühnenbilder zu entwerfen. Aber in welcher Umgebung werden sie in Zukunft arbeiten? Wie wird die Kreativbranche in zwanzig Jahren aussehen? Da geht es nicht mehr um dieselbe Sensation und nicht mehr um dieselben Ängste wie heute: Wird der Roboter die Tänzer ersetzen? Ich denke, diese Angst war schon immer da, seit die Malerei mit der Fotografie konfrontiert wurde wie nun der Tanz mit der Medienkunst. Dabei hat die Fotografie der Malerei nichts weggenommen. Gemälde werden immer noch für viel Geld verkauft. Das Theater verschwand nicht, als der Film aufkam. Also wird auch ein Roboter-Tänzer den menschlichen Tänzer nicht ersetzen, sondern nur dessen Möglichkeiten erweitern.
Im Moment scheint es in der digitalen Tanzszene einen Kult um «glitch» zu geben, um die Fehler, die Computer machen. Warum diese Lust am Scheitern?
Wir sehnen uns nach Zusammengehörigkeit, also nach Ähnlichkeit, und lehnen deshalb Roboter solange als fremd ab, bis sie uns so menschlich erscheinen, dass sie unser Vertrauen gewinnen. Das gilt für alle Objekte, die an die Stelle von Menschen treten, auch für Puppen oder Handys. Das gilt aber auch für die Simulation von Gemeinschaften, wie das Theaterpublikum eine ist, die ein Ritual erwartet. Ein Ritual funktioniert nicht vor einem winzigen Bildschirm. Geht man ins Theater, wird man Teil des Erlebnisses und taucht mit anderen Menschen darin ein. Was uns verbindet, ist etwas Unabsehbares, die Möglichkeit, dass etwas schief gehen kann. Ginge nichts mehr schief, fehlt ein entscheidender Aspekt, um den sich jedes Spiel und jede Darbietung drehen: die Möglichkeit zu scheitern. Menschen tragen ihren Tod immer in sich. Ich möchte jetzt nicht morbide klingen, aber die Tatsache, dass sich unsere Körper dieser Verletzlichkeit immer bewusst sind, ist meiner Meinung nach etwas, das Roboter und andere digitale Träger nie in gleicher Weise haben werden. Darum ist «glitch» so hoch im Kurs.
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Tanz Dezember 2024
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