Prävention

Nachweis mit Daten und Fakten: Tanz ist Schwerstarbeit auf der Theaterbühne

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Leichtigkeit, Eleganz, Präzision – was auf der Bühne mühelos wirkt, ist Schwerstarbeit. Wie hoch die berufsspezifische Belastung von Bühnentänzer*innen genau ist, hat jüngst ein Forschungsprojekt der Goethe-Universität Frankfurt mit der BallettCompagnie des Oldenburgischen Staatstheaters und dem Ballett Kiel gezeigt. Eileen M.

Wanke, Chirurgin, Arbeits- und Sportmedizinerin und seit vielen Jahren tanzmedizinisch tätig, und Wolfgang Heuer von der Präventionsabteilung der Unfallkasse NRW untersuchten die körperlichen Beanspruchungen von Tänzer*innen – und lieferten damit eine wissenschaftliche Grundlage, die bisher gefehlt hat.

«Wir konnten endlich belegen, dass Tanzen körperliche Schwerstarbeit ist», sagt Wanke, Professorin am Institut für Arbeits-, Sozialund Umweltmedizin der Goethe-Universität. Mit modernster Sensortechnik erfasste das Studienteam die Bewegungen professioneller Tänzer*innen während des Tanzens. Siebzehn Sensoren, integriert in spezielle Ganzkörperanzüge, zeichneten Gelenkpositionen und Muskelaktivitäten auf und speisten die Daten in eine Software, die den respektive die jeweilige*n Tänzer*in als digitalen Avatar auf dem Bildschirm tanzen ließ. Obwohl Tänzer*innen offensichtlich enorme physische Leistungen erbringen, existierten bislang keine verlässlichen Vergleichsdaten zu anderen Berufsgruppen. «Uns fehlte schlicht die Datengrundlage, um gezielte Schutzmaßnahmen und Normen zu entwickeln», betont Heuer.

Belastung in drei Phasen
Analysiert wurden Trainingsphasen und die Produktion «Giselle» in Kiel. Schon im klassischen Stangentraining, bei Adagio und Drehungen ließen sich hohe Belastungen messen. Mit zunehmender Dynamik stiegen auch die Risiken: Während an der Stange vor allem die extremen Gelenkstellungen für die Belastungen verantwortlich sind, stehen bei den Sprüngen die enormen Aufprallkräfte im Vordergrund. Berechnungen ergaben, dass bei nur sieben Sprungkombinationen im Training rund 50 Tonnen Kraft auf Gelenke und Muskulatur einwirken. Tänzerinnen wiesen bei der Betrachtung ein insgesamt wesentlich höheres Risiko für das Bewegungssystem auf, als ihre männlichen Kollegen – unter anderem durch die Arbeit im Spitzenschuh. Über 50Prozent aller Bühnentänzer*innen erleiden pro Saison mindestens einen Arbeitsunfall, viele kämpfen mit Überlastungs- oder chronischen Fehlbelastungsschäden. Etwa jeder vierte Tänzer entwickelt bis zum 30. Lebensjahr eine erste Arthrose. Und dennoch: Die Leidenschaft für den Tanz lässt viele Schmerzen verdrängen.

Arbeitsmaterial: Boden und Körper
Besonders deutlich wurde der Einfluss der Bodenbeschaffenheit. Der Tanzboden ist eines der wenigen Arbeitsmittel der Tänzer*innen – und spielt eine zentrale Rolle für Prävention und Gesundheit. «Nur etwa zehn Prozent aller Theater in Deutschland verfügen über Schwingböden in allen Arbeitsbereichen», erklärt Wanke. Die Messungen zeigen nun: Harte Böden erhöhen das Risiko für Verletzungen signifikant. Die Studie bestätigt: Ein optimal federnder Boden reduziert nicht nur die akute Belastung, sondern wirkt auch langfristig präventiv gegen Arthrosen und Gelenkschäden. Wanke und Heuer wünschen sich eine verbindliche Norm für Theaterböden, die die spezifischen Anforderungen des Bühnentanzes in allen Bereichen berücksichtigt.

Erforderliche Konsequenzen
Die gesammelte Datenmenge ist enorm. Der österreichische Bewegungsforscher Christian Maurer-Grubinger koordinierte die Auswertung mithilfe des arbeitsmedizinischen Systems «REBA – Rapid Entire Body Assessment». Dabei werden Körperhaltungen bewertet und Risikopunkte vergeben. So konnten erstmals konkrete Risikoschwellen definiert werden – also Momente, in denen eine Bewegung vom tolerablen ins riskante Muster wechselt. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig präventive Maßnahmen sind – nicht nur auf der Bühne, sondern bereits im täglichen Training. Bei einem Ballettabend wie «Giselle» etwa hebt ein Tänzer über zwei Tonnen Gewicht.

Trotz aller Zahlen bleibt der Tanz mehr als biomechanische Analyse. Die Studie schafft Verständnis für die Voraussetzungen jener Kunst, die so leicht und fließend erscheint. «Für Musiker ist das Instrument die Violine», sagt ein Tänzer in der projektbegleitenden Dokumentation «Verletzlich schön», die Heide-Marie Härtel vom Deutschen Tanzfilminstitut Bremen gedreht und produziert hat. «Für uns ist es der Körper. Und um den müssen wir uns kümmern.» Die Daten der Studie werden in arbeitsmedizinische Bewertungen und Normungsprozesse einfließen. Für die Zukunft bedeutet das: mehr Sicherheit, gezieltere Prävention, bessere Ausstattung. Wanke betont: «Wichtig ist, dass das Wissen zurück an die Basis gelangt – zu den Tänzerinnen, zu den Choreografen, in die Theater.» Erst, wenn Technik, Raum, Analyse und Regeneration wirklich als integraler Bestandteil des Tanzes verstanden werden, können die Tänzer*innen optimale Unterstützung erfahren. Das Forschungsprojekt liefert ein Plädoyer für eine nachhaltige Tanzpraxis – eine, die der Gesundheit mehr Bedeutung zumisst.

Zur Doku «Verletzlich schön. Tanz zwischen Eleganz und Risiko»
https://www.youtube.com/watch?v=Iu2gcviNzc


Tanz Dezember 2025
Rubrik: Praxis, Seite 60
von Nina Lovera

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