Haben Sie, hat irgendwer in Ihrer Umgebung mit dem Angriff auf die Ukraine gerechnet?
Niemand. Absolut niemand. Schon gar nicht in der Ballettwelt. Wir sind ja normalerweise nicht politisch involviert, wir haben so viel zu tun, dass wir gar nicht die Zeit haben, um uns mit diesen Dingen zu befassen. Du tanzt, du probst – und dann wachst du eines Tages mit der Nachricht auf, dass Krieg ist. Keiner von uns hat das glauben können. Es ist ein Albtraum für alle.
Wie war der Umgang ukrainischer und russischer Tänzer miteinander?
Es gab keinerlei Diskussionen, man geht vollkommen normal miteinander um, das ist Alltag. Ich persönlich finde es schwierig, dass auf einmal alles politisiert ist und politisiert wird. Dass wir Künstler, gerade auch wir Tänzer, auf einmal in der Mitte dieser ganzen Auseinandersetzung stehen. Wenn du russisch bist, kannst du nicht mehr aus dem Land gehen, wenn du ukrainisch bist, musst du das Land verlassen – das ist doch schrecklich. Auch ukrainische Tänzer haben Familie in Russland, eine Karriere am Bolschoi, und russische Tänzer womöglich Verwandte in der Ukraine. Es ist furchtbar, wenn diese beiden Seiten gegeneinander ausgespielt werden. Denn es gibt da normalerweise keine Konflikte – nicht hier in Berlin, nicht in Moskau. Wir sind Tänzer und keine Politiker.
Trotzdem gefragt: Müssen exponierte Künstler nicht Stellung beziehen?
Man muss sehen, dass es in Russland eine Gesetzgebung gibt, die dir verbietet, den Mund aufzumachen. Du kannst das Land verlassen, aber sich in Russland gegen die Politik auszusprechen, ist wirklich gefährlich. Die Leute haben Angst, weil sie nicht wissen, was passieren kann. Entweder du bleibst still und machst einfach weiter, oder du stellst dich offen dagegen. Dann kann es sein, dass du nie wieder zurückkommst, dass du das Land verlassen musst, auch wenn du nicht willst. Ich denke, es ist sehr schwierig, das zu entscheiden. Aus meiner Sicht sollte niemand gezwungen werden, seine Meinung offen zu äußern. Aber die russische Kultur zu bannen, das finde ich verkehrt. Keinen Tschaikowsky mehr spielen? Kein russisches Ballett mehr anschauen? Das geht nicht.
Wann haben Sie beschlossen, Russland zu verlassen?
Ich habe mir Zeit genommen, darüber nachzudenken. Das war keine Augenblicksentscheidung. Ich habe mir überlegt: Was ist der Gewinn, was der Verlust? Ausschlaggebend war letztlich, dass ich ohnehin vorhatte, mich ein Stück weit westlich zu orientieren. Wäre ich in Russland geblieben, hätte das eine Sackgasse sein können. Aber die Entscheidung war ausgesprochen schwierig. Schließlich habe ich den Großteil meines Lebens in Russland verbracht, ich habe Freunde dort, das Theater ist meine Familie geworden – davon macht man sich nicht einfach so los. Es war sehr hart zu gehen, ohne zu wissen, ob ich jemals zurückkehren kann.
Wie haben Sie die Ausreise organisiert?
Ich habe sicherheitshalber am 26. Februar einen Flug gebucht, für den 4. März. Nach Mailand, da leben Freunde von mir. Als ich den Flug buchte, war meine Entscheidung noch nicht definitiv gefallen. Das kam erst im Lauf der nächsten Tage. Aber ich dachte: wenn ich gehen will, bin ich so auf der sicheren Seite. Obwohl ich auch befürchten musste, dass der Flug storniert wird, weil sich abzeichnete, dass die Airlines die Verbindungen kappen würden. Letztlich war ich auf alles gefasst: den Zug zu nehmen, das Flugzeug, Pferd oder Fahrrad zu besteigen, zu Fuß zu gehen – alles wäre möglich gewesen.
Das gesamte Interview von Dorion Weickmann lesen Sie in tanz 6/22
(Portraitfoto: Elen Pavlova)