Viele warten ein Leben lang auf den Anruf, der ihr Leben verändert. Doch er kommt nie. Für Cathy Marston lief es umgekehrt: Im Juni 2021, mitten in der Pandemie, fragt der Zürcher Opernintendant Andreas Homoki an, ob sie Interesse hätte, für zwei Spielzeiten die Direktion des Balletts zu übernehmen. Auf seiner Liste mit potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten stehe ihr Name ganz oben. «Die Anfrage kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel», sagt Marston. Eigentlich hätte sie auf der Stelle zusagen müssen: Das Ballett Zürich ist mit 36 Tänzerinnen und Tänzern das größte professionelle Ensemble der Schweiz, mit der angegliederten Juniorkompanie kommt man auf fünfzig Köpfe. In jedem Fall rangiert die Kompanie unter den Besten Europas: Unter der Leitung von Christian Spuck wurde das Ballett Zürich 2020 zur «Kompanie des Jahres» gewählt. Zudem liegt Marston das Haus persönlich am Herzen, hier hat sie im Alter von 18 Jahren ihre Tanzkarriere gestartet.
Doch sie zögert, denn das Angebot hat einen Haken: Ihr Vertrag soll eben nur bis 2025 laufen, dann wechselt die Opernintendanz – Matthias Schulz beerbt Homoki. «Was kann ich innerhalb eines so kurzen Zeitraums und ohne Planungsperspektive bewegen?», fragt sie sich. Trotz der Pandemie ist Marston als freischaffende Choreografin gut gebucht, das ständige Herumreisen gefällt ihr. Aktuell hat die 46-Jährige in Europa und den USA neue Projekte am Start, beim San Francisco Ballet hat sie gerade den Buch- und Filmklassiker «Die Reifeprüfung» unter dem Titel «Mrs. Robinson» für die Tanzbühne formatiert, beim Joffrey Ballet bringt sie im April die Steinbeck-Adaption«Of Mice and Men» heraus. Sie habe die Vorzüge der Freiheit lieben gelernt und in kurzer Zeit mit vielen unterschiedlichen Ensembles arbeiten können, meint sie: «Das ist perfekt, um mich künstlerisch weiterzuentwickeln.»
Sie entscheidet sich dann doch für eine Zusage an die Zürcher. «Ich begann, den befristeten Job als künstlerische Residenz zu betrachten. Ich bekomme zwei Jahre Zeit, um in Zürich einen großartigen Job zu machen, ohne dadurch den Schwung für meine Karriere als freiberufliche Choreografin zu verlieren. Was will ich mehr?»
Den gesamten Beitrag von Marianne Mühlemann lesen Sie in tanz 3/22
(Portrait: Rick Guest)