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Rezensionen #4

Freiburg, Karlsruhe, Münster, Stuttgart

Foto: Rainer Muranyi

Freiburg: Janacek «Katja Kabanova»

Wieder am 25. Februar, 15., 31. März

Erst allmählich wird die Bühne zum Ort, gibt die Weite der Natur das gesellschaftlich Festumrissene frei. Die Freiburger Szene zu Leoš Janáčeks «Katja Kabanowa» stammt von Alfred Peter und sagt mehr als tausend Worte. Wie aus der Tiefe des Raumes herangezoomt, mit der Lupe betrachtet: zwei Zimmer wie Puppenstuben, Gefängnisse überwiegend bigotter Tradition – Enge, die bedrückt, aus der es ein Entkommen kaum gibt, es sei denn hin zum Tode. Katjas Weg ist vorgezeichnet – hellsichtig, wie sie sich gleich der Musik, mit der Janáček sie umgibt, ja, liebkost, aus dem Aufeinanderhocken wegstiehlt, den Schritt in die vermeintliche Freiheit wagt. Doch die Weite da draußen erstickt oft im Nebel, ist undurchschaubar, saugt die Menschen auf, die den Ausbruch riskieren, dieweil die Schaumkronen der Wolga sich an Land wälzen. Auch die Weite hat ihre Grenze.

Wir sind längst bei Tilman Knabes Inszenierung angelangt. Der ist heute nicht mehr der «junge Wilde», als der er einst Aufsehen erregte. Er bleibt nah am Text und vor allem auch: an der Musik; einige Überdeutlichkeiten lässt man ihm auch durchgehen. Die beiden Alten holpern etwas bemüht am Stock und an Krücken. Dafür geben sie sich beim Spätsex, den Janáček unserer Vorstellungskraft überlässt, recht vierschrötig. Die Gequältheit der Titelgestalt, ihre nachgerade hysterische Art, erotischer Gefahr zu entrinnen und letztlich doch entschlossen zu unterliegen, teilt sich immer wieder bewegend mit. Knabe hält es mit einem plastischen Spiel der Gesten, auch großer Beredtheit der Körper. Er «erklärt» viel, ohne zu indoktrinieren. Dass Katja am maroden Zustand einer durch und durch verlogenen Gesellschaft scheitert, verliert er nie aus den Augen. Klar, dass das Gewitter der finalen Katastrophe in ihrem Inneren tobt, ehe das Vogelgezwitscher Frieden suggeriert. Ach ja, das Leben.

Ein hochrangiges, kettenrauchendes Ensemble unterstützt Knabe sehr glaubwürdig. Die Oper von Frauenliebe und -leid hat in Anna-Maria Kalesidis eine formidable Interpretin: eine Lyrische, beinahe noch ein Mädchensopran, der indes zu großen, dabei nie «dick» klingenden dramatischen Gefühlsausbrüchen in der Lage ist. Anja Jungs Kabanicha und Juan Orozcos Dikoj sind Sängerdarsteller im Zenit ihrer vokalen Entfaltung: große Mezzosopran- und Bariton-Substanz. Inga Schäfers betont urbane Warwara führt die junge Riege mit frischer Stimmfärbung an. Und die drei Tenöre geben einander nichts nach: Harold Meers’ mühelos brillierender Liebhaber Boris, Joshua Kohl eine Spur elegischer als Kudrjasch und Roberto Gionfriddos ins Charakter- und Heldenfach weisender Tichon.

Dass die Aufführung allerdings so verfängt, liegt an der bemerkenswert intakten Korrespondenz von szenischer und musikalischer Darstellung, von der Beglaubigung, die den Handelnden aus dem Graben zuwächst. Deren Qualität beruht auf der Genauigkeit, mit der das instrumentale Spektrum eingefangen ist. GMD Fabrice Bollon erweckt das Drama tatsächlich aus dem Pianissimo des raunenden Beginns, und fürderhin gelingt ihm ein glasklares Klangbild, aus dem sich die vielen Solobeiträge geschliffen lösen. Ganz nebenbei erhärten er und das in Hochform spielende Philharmonische Orchester Freiburg die nicht selten geäußerte Ansicht, keine andere Frauengestalt in der Oper werde von der Musik so warm getragen, so geliebt wie diese Katja.

Heint W. Koch

https://theater.freiburg.de/de_DE/spielplan/katja-kabanowa.14953283

Karlsruhe: Händel «Semele»

Vom 23. - 28. Februar im Opernhaus

Göttervater Jupiter hat eine Affäre mit Semele. Als seine Gattin Juno dahinterkommt, setzt sie alles daran, die eitel-ruhmgierige Schöne zu vernichten, wozu ihr jedes Mittel recht ist. Der junge niederländische Regisseur Floris Visser, geht der Story von Händels 1743 entstandenem, durchaus opernhaftem Oratorium «Semele» in seiner Karlsruher Inszenierung auf den Grund und legt hinter der mythologischen Fassade das wahre Leben frei. Während im hochgefahrenen Orchestergraben die Deutschen Händel-Solisten unter der Leitung von Christopher Moulds die Ouvertüre spielen, dreht sich Gideon Daveys dem römischen Pantheon nachempfundene Szene – mal Oval Office, mal Kirche, mal kerzenbeleuchtetes Liebesnest – und gibt im schnellen Wechsel Einblicke in ein erotisches Techtelmechtel frei, das uns bekannt vorkommt: die Affäre des ehemaligen Präsidenten Jove Clinton mit seiner Praktikantin Semele Lewinsky.

Die vom Publikum genüsslich zur Kenntnis genommene Anspielung ist nur ein Appetizer. Visser holt die Handlung mit Sonnenbrillen tragenden Security-Männern, Foto-Shooting und einer echten Limousine in die Gegenwart. Aber es geht ihm nicht um platte Aktualisierung, sondern um das hinter der Dreiecksgeschichte verborgene, ewig gleiche Spiel um Macht und Sex, von dessen feinem Räderwerk Semele zermalmt wird – ob Jupiter nun Politiker oder Topmanager ist. Visser serviert seine Einfälle mit leichter Hand, präzise und voller Tempo, sodass selbst in den ausgedehnten Da-Capo-Arien keine Langeweile aufkommt. Noch die spektakulärsten Gags, wie die Entführung Semeles während der Hochzeitsfeier mit dem ungeliebten Athamas durch Jupiters bewaffnete Eingreiftruppe, sind strikt handlungsbezogen. Oder illustrieren, wie zu Beginn des dritten Aktes, mit hinterfotzigem Humor den phlegmatischen Gesang von Somnus, der keine zusammenhängende Melodie zustande bringt. Der Gott des Schlafs, mit dessen Hilfe Juno die Wachen von Semeles Liebesnest überlisten will, dämmert als betrunkener Security-Mann vor einer mit Sexmagazinen zugemüllten Monitorwand – eine glänzende Charakterstudie, für die Yang Xu zu Recht Sonderbeifall erhielt.

Vor allem aber inszeniert Visser nicht das ohnehin wenig aussagekräftige Textbuch, sondern hört mit großer Einfühlung und Sensibilität auf Händels Musik. Alles, was er zeigt, ist ihrem psychologischen Subtext, ihren Farben abgelauscht. Das gibt den Figuren, aber auch ihren Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Intrigen Umrisse, die bis ins Detail hinein stimmen. Jupiter ist ein machtbewusster Womanizer mit dem Dauerstrahlemann-Gesicht des Erfolgreichen; Juno (Katharine Tier in giftrotem Hosenanzug mit triumphierendem Hexengelächter) die rachsüchtige Ehefrau; Semeles unglücklicher Bräutigam Athamas (Terry Wey mit feinlasiertem, höchst agilem Altus) mimt melancholisch-resigniert den Lückenbüßer, der sich am Ende mit Semeles Schwester Ino zufriedengibt. Niemand, nicht einmal der Brautvater Cadmus (Edward Gauntt mit stolzgeschwellter Brust und Stimme), wird verulkt – Visser nimmt sie alle ernst!

Im Zentrum freilich steht Semele. Händel hat ihr die facettenreichste, mit zahlreichen Accompagnati auch formal interessanteste Musik verliehen – gefühlvoll wie in der träumerischen Arie «O sleep, why dost thou leave me?» (Gesangs-Aficionados schwärmen von John McCormacks legendärer Aufnahme), atemberaubend virtuos wie im koloraturgespickten Jubel «No, no! I’ll take no less». Visser zeigt sie als eitel-selbstbewusste, zugleich narzisstisch-selbstverliebte Frau, die in ihrem Drang nach Höherem schließlich auch die Warnungen Jupiters überhört. Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Die wirkliche Gestalt des Geliebten kann sie nicht ertragen. Sie verbrennt, allerdings nicht durch Jupiters Blitz, sondern – genialer Einfall Vissers! – im Blitzlichtgewitter der Yellow Press.

Nicht zuletzt gelingt es Visser, auch die musikalisch im Vergleich zu Händels biblischen Oratorien eher leichtgewichtigen Chöre überzeugend in die von ihm erzählte Story einzubinden – als Upperclass der Scheinheiligen und Heuchler, als lästige Paparazzi, vor denen nicht einmal das Bett des Liebespaars sicher ist, und die selbst den Tod Semeles (wie den Lady Dianas) festhalten. Vissers Blick auf die Rolle der Öffentlichkeit ist, bei allem theatral-spielerischen Gestus, bedrückend, weil gnadenlos realistisch und gnadenlos genau, auch wenn er das eine oder andere Detail (etwa den gierig den neuesten Jupiter-Klatsch in der Boulevardpresse verfolgenden Chor) aus Robert Carsens weitgereister, erstmals 1996 in Aix-en-Provence gezeigter «Semele»-Inszenierung übernommen hat.

Für die Karlsruher Händel-Festspiele ist Vissers meisterhafte Inszenierung ein Meilenstein, weil sich endlich einmal nach vielen Jahren Szene und Musik wieder auf Augenhöhe begegnen. Sängerisch gab es keinen Ausfall, und auch das handverlesene Orchester der «Deutschen Händel-Solisten» sowie der «Händel-Festspielchor» sorgten unter der umsichtigen Leitung von Christopher Moulds für einhellige Begeisterung des Premierenpublikums.

Uwe Schweikert

http://www.staatstheater.karlsruhe.de/programm/info/2380/

Münster: Shakespeare «Der Kaufmann von Venedig»

Wieder am 25. Februar, 13. und 17. März, 10. April im Stadttheater

Der Prinz von Marokko ist in Shakespeares «Kaufmann von Venedig» der dritte Heiratskandidat, der sich vor der schönen und reichen Portia zum Affen macht. Nach dem Prinz von Hannover (Ilja Harjes als Ernst-August-Parodie mit ausgepolstertem Arsch in zu engen Jeans) und dem Prinz aus Kasachstan (Garry Fischmann nackt unter Fellmütze und -weste) tritt Zainab Alsawah in einer braunen Dschellabah zum bescheuerten Kästchentest an und bricht angesichts des frühneuzeitlichen Bachelor-Games in einen arabischen Wutschwall aus. Nach etwa drei Minuten ruft jemand aus dem Publikum: «Sprich gefälligst Deutsch!», «Ich versteh nichts!», kurz darauf fallen andere ein – wieder andere drehen sich irritiert um und wollen sehen, wer da ruft. Manche protestieren gegen die Zwischenrufe.

Dank dieses inszenierten Tumults, der an den Abbruch des Kölner Konzerts des iranischen Cemablisten Mahan Esfahani vor zwei Jahren erinnert, hat Stefan Ottenis analytische Shakespeare-Deutung überregionale Aufmerksamkeit erlangt. Ob der Vergleich nicht hinke (das Kölner Publikum stieß sich vor allem an der Radikalität der Neuen Musik), ob die Unterstellung Münsteraner*innen (die bundesweit mit die geringste AfD-Quote aufweisen) seien borniert, nicht unfair sei, wurde diskutiert. Fast flöten ging darüber die Aufmerksamkeit für das Kernstück der Inszenierung: die Gerichtsverhandlung, bei der ums Haar Shylock den einvernehmlich geschlossenen Vertrag einlöst und ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper schneidet, sowie die Kombination mit dem kürzlich entdeckten Shakespeare-Fragment «Die Fremden», ein Thomas Morus in den Mund gelegtes Plädoyer für Mitgefühl.

https://www.der-theaterverlag.de/In Shakespeares «giftigstem» Stück (so Otteni) mit seiner verstrickten Konstruktion lauern jede Menge stereotype Fallstricke: Der schwule Kaufmann Antonio (Christian Bo Salle) möchte seinem Freund Bassanio (Balint Toth) die Freier-Reise zu Portia (Sandra Belzer) finanzieren und borgt sich dafür, weil vorübergehend nicht flüssig, bei Shylock (Christoph Rinke) das nötige Geld – und lässt selbstbewusst nachlässig die Fleisch-Klausel in den Vertrag schreiben. Otteni zeigt hier übliche Geschäftsmänner in Anzug und Slipper, kulturelle Differenz kommt erst mit den internationalen Brautwerbern auf Portias Landsitz ins Spiel. Peter Sciors offene Drehbühne markiert Venedig kühl und dunkel mit einem frei schwebenden Holbein-Jesus; unter den Brettern verbirgt sich das Jugendzimmer von Shylocks Tochter Jessica, die es durch Liebe/Heirat auf die Seite der Mehrheitsgesellschaft zieht. Portias südliches Belmont braucht nur eine überdimensionale Partyschale zum sorglosen Chillen unter freiem Sternenhimmel.

Als Antonio wider Erwarten zahlungsunfähig ist, kommt es mit Hilfe der als Richter verkleideten (und inzwischen in Bassanio verliebten) Portia und ihrer Freundin Nerissa (Natalja Josselewitsch) zum Prozess. Christoph Rinkes Shylock packt, bleich vor Wut, das in einer Sporttasche mitgebrachte Operationsmaterial so selbstverständlich aus, als wäre Schlachten sein Angeln. Dieser Suspense-Modus erhöht die Aufmerksamkeit für das Verhandlungswort: Aus dem Vorwurf der Grausamkeit, den man Shylock ja durchaus machen muss, wird hier blitzschnell die unversöhnliche, ja tödliche Stigmatisierung «Jude». Umgekehrt werden Shylocks Gründe hörbar, auf dem privilegierten Recht der Anderen zu beharren, das ihn zugleich wirtschaftlich, sozial und räumlich ausgrenzt. Freundschaft und Mitleid sind in einer Gesellschaft, die (innen oder außen) «Sklaven» hält oder auch nur mit zweierlei Maß misst, nicht möglich.

Otteni und das hochkonzentrierte, dabei erstaunlich entspannte Münsteraner Ensemble gehen einen Schritt weiter und in die Gegenwart, wenn sie den Mechanismus der Ausgrenzung auch auf Muslime und, ganz am Schluss, auf Frauen übertragen. Die historische Spezifik des Antisemitismus wird damit nicht geschmälert, wohl aber an das Gemeinsame jeder Exklusion erinnert, wenn neben Shylock auch der Prinz von Marokko und Nerissa fragen: «Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?»

Eva Behrendt

https://www.theater-muenster.com/produktionen/die-fremden-der-kaufmann-von-venedig.html/ID_Vorstellung=5088&m=203

Stuttgart: frei nach Matthäus «Das 1. Evangelium»

Wieder am 04.,18., 29. März, 7., 22. April im Schauspielhaus

Im Anfang war das Wort. Und das Bild. Und sonst auch noch vieles. Im Stuttgarter Schauspielhaus hat Kay Voges, hauptberuflich Intendant des Dortmunder Schauspiels, zur Messe geladen. Mit Weihrauchduft lotst er die Besucher in die heiligen Hallen des Theaters, an dessen Decke und Seitenwänden im Zuschauerraum viele kleine rote Lämpchen leuchten. Schummrige Stimmung, die ein bisschen mehr Fegefeuer als Himmel suggeriert. Immerhin sorgt Bachs «Matthäus-Passion» für eine gewisse Erhabenheit.

Wie überhaupt die Musik an diesem Abend Halt – vor allem Zusammenhalt – bieten wird. Als Klassik, Pop, Musical und Heavy Metal ist sie der Kleber, der einen Reigen disparater Brennelemente fusioniert, die Voges in einem Dauerfeuer abfackelt. «Das 1. Evangelium» überschreibt der Regisseur sein Werk, «frei nach Matthäus». Mittelpunkt der Inszenierung ist die Drehbühne, die ihm Michael Sieberock-Serafimowitsch eindrucksvoll mit verschiedenen Räumen und Projektionsflächen gefüllt hat. In stetiger Dauerschleife rotieren Wohnwagen, Kneipen-Theke, Krankenzimmer, Black Box und andere Stellflächen, an denen sich Schauspieler präsentieren. Denn Voges’ «Evangelium» ist kein Versuch, Religionsgeschichte darzustellen, sondern das «Making of eines Jesus-Films». Damit lässt sich gut rechtfertigen, warum die ganze Zeit Kameraleute das Geschehen für viele Leinwände einfangen. Es fällt aber schwer, dabei nicht an Castorf, Pollesch und Bert Neumann zu denken. Vielleicht auch, weil ähnlich viel geschrien wird wie anno dazumal an der alten Volksbühne. 

In Stuttgart wird das Ganze von Fred dirigiert, einem Filmregisseur mit großer Vision und noch größerer Besessenheit, der zwischen Avantgarde-Anspruch und Trash hin- und herschwankt. Vielleicht ein Alter ego von Voges, vielleicht auch nur der Verweis auf die großen Wilden wie Godard, Fassbinder, Herzog & Co. Mit dem etwas klischeehaft aufspielenden Paul Grill ist er allerdings zu harmlos besetzt, selbst wenn der sich redlich Mühe gibt, Rausch auszuschwitzen. Besser aber schaut man Peer Oscar Musinowski zu, der als Star am Set mit angemessener Cholerik hyperventiliert, bevor er sich als Johannes der Täufer nass macht. Oder Holger Stockhaus, der für satirische Einwürfe zuständig ist – als schnöseliger Filmproduzent und als Pontius Pilatus, die Rollen liegen nah beinander. Einer muss schließlich dafür verantwortlich sein, wenn jemand ans Kreuz genagelt wird. 

Zum Jesus hat Voges Julischka Eichel berufen, die sich tapfer durch den Abend leidet. Marietta Meguid glänzt als Marienikone, nachdem sie gleich zu Beginn sehr eindringlich das Jesuskind zur Welt gebracht hat. Nicht nur dabei wird viel kunstgeblutet, man möchte hinterher nicht putzen müssen auf dieser Bühne. 

In einem nicht enden wollenden Assoziationsraum verwirbelt Voges Leben und Passion Christi als postmoderne Materialschlacht. Gelungen sind einzelne Dioramen, für die der Regisseur vor einer schwarzen Wand immer wieder Schauspieler gemäldeartig arrangiert – von Adam und Eva bis Kreuzigungsszene und Pietà. Auch die nackten Männer der Kommune 1 zitiert Voges in einer Bildkomposition. Die Jünger waren schließlich auch irgendwie Kommunarden. Und überhaupt hat alles mit allem zu tun. 

Wie ein Karussell drehen sich Bühne und Ideen. Oberammergau auf LSD, die Passionsgeschichte als B-Movie. Superman und Ku-Klux-Klan dürfen ran, die römischen Soldaten sowieso. Der Regisseur scheint dabei durchaus Bedeutung und vielleicht sogar Tiefe herstellen zu wollen. «I want to believe» prangt an einer Wand. Und immer wieder werden Zitate wichtiger weißer Männer eingeblendet. «Wenn zwei Bilder aufeinander treffen, entsteht ein Drittes.» Danke, Godard. «Es ist die Welt, die uns wie ein schlechter Film vorkommt.» Volltreffer, Deleuze. Auch Badiou, Benjamin, Fellini, Ginsberg, Goethe und Tocotronic wird die Ehre erwiesen. Keine einzige Philosophin oder Denkerin kommt zu Wort. Die Welt lässt sich mit Männern erklären. Da ist es auch schon egal, dass Jesus hier eine Frau ist. Gesteuert wird sie von den Herren der Schöpfung, ob die nun Fred oder Kay heißen.

Vom Titel her zwangsverpflichtet als Pate der Inszenierung ist natürlich auch ein Mann – nämlich Pier Paolo Pasolini. Schnörkellos, in karger Landschaft und Ausstattung, hatte der seinen gleichnamigen neorealistisch anmutenden Film zum großen Teil mit Laiendarstellern und in Schwarz-Weiß gedreht. Also das Gegenteil von Voges’ wildbuntem Ansatz. 40 Minuten lang sollen kirchliche Würdenträger 1964 bei einer Vorführung von Pasolinis Werk im Vatikan applaudiert haben. Und das trotz des oft als Häretiker und Provokateur geschmähten Regisseurs und Autors, der sich selbst als Atheist verstand. Für den Vatikan ist Pasolinis Werk inzwischen sogar der «beste Film über Jesus». Vor drei Jahren erst hat der Kirchenstaat das Original digitalisieren und verlautbaren lassen, der Film sei symbolhaft für das Konzept der «armen Kirche für die Armen», wie sie Papst Franziskus ausgerufen hat. Viel Gewicht also, das da einem Kunstwerk aufgelastet wird. Und mit dem Voges’ Fassung so gar nichts zu tun hat. 

Das immerhin ist auch gut so. Die Instrumentalisierung durch die Kirche hat das Stuttgarter «Evangelium» nicht zu befürchten. «Ich versuche auf das poetische Niveau meiner Träume zu kommen», erklärt Fred, der ewig unverstandene Künstler, und treibt den Bühnennebel hoch. «Es ist nicht vollbracht», ruft er am Ende, «wir drehen weiter». Die Passion ist hier zugedröhnt von grellen Effekten, endlosen Samples, beeindruckender Videoarbeit. Aber man vermisst dann eben doch nicht nur einen schmerzlichen Moment lang Christoph Schlingensief, der auf ganz eigene Art Messen im Theater gefeiert hat. In ihren besten Momenten  ist «Das 1. Evangelium» eine Fortsetzung oder Variation von Voges’ gewaltiger «Borderline Prozession» in Dortmund, oft aber nur deren deutlich weniger origineller Wurmfortsatz. Im Anfang war die Ratlosigkeit, heißt es irgendwann an diesem Abend. Dass das auch im Ende gilt, lässt sich nach mehr als zwei Stunden bestätigen.

Kristin Becker

https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/das-1-evangelium/

Foto: Maor Waisburd

Stuttgart: Katja Erdmann-Rajski «Medea, TanzVerse V»

Wieder am 1. und 2. Februar im Theaterhaus

Erbarmen mit den Frauen! Radikaler lässt sich die Forderung Henry de Montherlants, 1936 in seinem vielleicht zu Recht vergessenen Roman formuliert, kaum verkörpern. Denn Julia Brendle, Katja Erdmann-Rajski und Kati Ivasti-Barki kaschieren ihre Blöße nicht. Sie reizen sie vielmehr tanzend aus – provozierend in einer Nacktheit, die hier keinen Voyeurismus duldet, sondern eher etwas Beschämendes hat. Auf eine unerklärliche Weise fühlt man sich von ihr betroffen, wenn nicht sogar mitschuldig gemacht an einem Schicksal, das Euripides vor mehr als zwei Jahrtausenden in seiner «Medea» in Worte fasste.

Katja Erdmann-Rajski zitiert auch hier aus ihrem Textmaterial, so wie sie das zuvor bei den anderen «TanzVersen» tat. Aber sie ist weit davon entfernt, den Mythos deshalb einfach abzubilden. Auf der Bühne gibt es keine Kinder, die ihre dreifache Medea hätte ermorden können. Schon gar nicht die eigenen, mit denen sie stellvertretend deren treulosen Vater tötet. Vielmehr bettet die Choreografin ihren «nackten Wahnsinn» ein in ein Stück Tanztheater, das ebenso vielschichtig ist wie aussagekräftig. Zwar erklingt aus der Ferne immer mal wieder eine Passage aus der Suite für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach, als riefe ihr die Musik eine glücklichere Zeit ins Gedächtnis. Aber ebenso oft hört man allein die Körpergeräusche der drei Tänzerinnen, die sich erst die Geschichte Medeas einverleiben müssen, bevor sie einen Bewegungschor teilhaben lassen an ihrem Leid. Katja Erdmann-Rajski hat ihn eindrucksvoll mit Frauen ganz unterschiedlicher Provenienz besetzt, um so ihrer «Medea» etwas Allgemeingültiges zu geben.

Auf jede Weise lässt die Collage der Überlieferung Raum und sich gleichzeitig im Hier und Heute verorten. Heißt es an einer Stelle apodiktisch «Männer sind falsch», verdichtet sich die Choreografie problemlos zu einer Publikumsbeschimpfung, denn dort sitzt er womöglich: der einstige Gatte, der die alternde Frau zugunsten einer jüngeren verlässt. Ein paar Szenen später drehen die drei den Spieß um, kokettieren mit den Verhaltensklischees des eigenen Geschlechts oder locken ihr imaginäres Gegenüber gleich kistenweise mit Pralinen. Egal, wie Katja Erdmann-Rajski eine Szene ausformt, ob tänzerisch, spielerisch, akustisch: immer ist die traumatisierte Medea auf irgendeine Weise gegenwärtig, im Weinen wie im Wimmern, in einer erstarrten Bewegung oder im ausgreifenden Lauf, im abschließenden Spitzensolo von Julia Brendle und in seiner choreografischen Bespiegelung durch das Kollektiv. Nicht zuletzt aber in einer verstörenden Nacktheit, die selbst das Innerste Medeas noch entblößt. Wer sich da nicht der Frauen erbarmt!

Hartmut Regitz

erdmann-rajski.de