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Filme und Serien

Black Mirror; Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Black Mirror

Was wäre, wenn ...? Was wäre, zum Beispiel, wenn man einfach noch mal ganz genau zurückschauen könnte auf das, was vor einem, vor zehn, vor 30 Jahren geschah? Nicht mit diesem unzuverlässigen Tool, das wir Gedächtnis oder Erinnerung nennen, sondern mit einer Aufzeichnung einer Maschine, unparteiisch, zuverlässig und archiviert für alle Ewigkeit? Dafür braucht es vielleicht nur einen kleinen Chip hinterm Ohr, der alles registriert, was das Auge sieht, und jederzeit zurückspulen kann in längst vergangene Zeiten. So ein Chip ist der technische Gimmick, mit dem in «Das transparente Ich» ein Ehebruch im Akademikermilieu in eine Zukunft gebeamt wird, die aussieht wie ein Heute. Wie wäre eine Welt, in der das totale Gedächtnis regiert, die gnadenlose Wahrheit? Es wäre eine Welt, in der die Grauzonen der (unterstellten) Verdächtigungen endlich erleuchtet würden, Aussagen nicht mehr von Richtern, Schöffen und Psychologen bewertet werden müssten. Ein gerechterer Ort. Einerseits. Andererseits: Sind die Grauzonen nicht auch Zonen der Gnade? Die Zonen, in der der unperfekte Mensch sich durchmogeln kann, vergessen darf, weggucken möglich ist? 

In solche Diskussionen führen die dystopischen Denkspiele von «Black Mirror». 2011 startete die erste Staffel der Serie auf Channel 4 der BBC mit einem wilden Stück, das die Macht der sozialen Medien in eine abstrus perverse Überspitzung trieb: Die allseits geliebte Prinzessin Susannah wird entführt, die Entführer verlangen vom Premierminister, live im Fernsehen mit einem Schwein zu kopulieren, damit ihr Opfer freikommt. Im Netz bestürmt das Volk den Premier, der Prinzessin seine Würde zu opfern. Was soll er tun? «Der Wille des Volkes», so der Titel der Folge, siegt ...

«Black Mirror», das ist der schwarze Spiegel, zu dem Tablet, Smartphone, Laptop werden, wenn sie ausgeschaltet sind. Sie werfen uns unser eigenes Bild zurück, echte Augen, Nasen, Münder. Wirklich? Im «Wiedergänger», 2. Staffel, 1. Folge, bietet ein Unternehmer im Netz perfekte Replikate geliebter verstorbener Menschen an. Sämtliche Informationen für die Remakes liegen im Netz vor – Aussehen, Vorlieben, Satzbau, Stimme, alles gespeichert in e-mail-accounts, sozialen Netzwerken, auf Instagram und YouTube. Die junge Mutter, die ihren Mann bei einem Autounfall verlor, wagt den Versuch.

Die Folgen der ersten beiden «Black Mirror»-Staffeln sind Science Fiction als Kammerspiel, auf 44 Minuten getaktetes Fernsehformat. Sie sind von beklemmender Intensität, aber nichts für Binge-Watcher: keine horizontale Erzählung, keine durchlaufenden Figuren, Erzählbögen, Cliffhanger. Die einzige Konstante der fast durchgehend vom britischen Kolumnisten, Drehbuchautor und Produzenten Charlie Brooker konzipierten und geschriebenen Serie ist das Thema, eine digitale Zukunft, in der die künstliche Intelligenz, die Kontrollmechanismen der social media, der Webcams und Drohnen schleichend die Herrschaft über den imperfekten Menschen übernommen haben. Eine schöne neue Welt in glänzenden Pastelltönen wie in «Abgestürzt», 3. Staffel, 1. Folge, in der der Wert eines Menschen sich aus den Likes und Empfehlungen im Netz zusammensetzt, eine Fortsetzung von Facebook, Instagram und YouTube in ein perfektes System, das nur noch normiert hübschen, netten, heiteren Menschen eine Chance lässt. Charlie Brooker gelingt es, die Technologien einer Zukunft, die der Gegenwart verdammt ähnlich sieht, in absolut nachvollziehbare psychologische Erzählungen zu implantieren, die den Zuschauer in gruselige Nähe zu seinen Protagonisten bringen.

Seit der 3. Staffel wird «Black Mirror» von Netflix produziert und ausgestrahlt. Das hat Brooker noch freier gemacht, das zeitliche Korsett ist gesprengt, Folgen können jetzt 41 Minuten dauern oder 89, so lange, wie die Geschichte braucht für ihre Entfaltung. Auch die visuellen Möglichkeiten, die viel Geld kosten, haben sich beträchtlich erweitert. Das Spektrum ist noch größer geworden: In «San Junipero», 3. Staffel, 4. Folge, erfindet Brooker eine digitale Parallelwelt, in der ein lesbisches Paar sein ungelebtes Liebesleben ausagieren kann, in der Rückblende in perfekt ausgestattete 80er, 90er und Nuller-Jahre, im dystopischen Kontext der Serie ein zärtlicher Seitensprung in ein utopisches «Was wäre, wenn ...». 

Der größere finanzielle Spielraum des Produzenten Netflix hat auch dazu geführt, dass das psychologische Kammerspielformat immer wieder gesprengt wird: In der 4. Staffel, seit Ende Dezember in Deutschland zu sehen, führt eine «Star Trek»-Hommage in den digitalen Weltraum («USS Callister»), in der ein Programmierer seine sozialen Mängel in einer Machtfantasie auslebt – was wäre, wenn Nerds endgültig die Welt regierten? In «Crocodile» führt ein Recaller, wieder so ein Erinnerungstool, zum Serienmord, und in «Hang the DJ» braucht es mehr als eine Handvoll großartiger Schauspieler, um das Pärchen, das füreinander bestimmt ist, durch ein Dutzend vom Dating-Portal vorgeschriebene Beziehungen zu schicken, bis der optimale Match herausgefiltert ist. Um den sich das Paar aber nicht schert und «das System» verlässt. Doch auch hier gibt es am Ende einen Twist, der den Algorhithmus zum Sieger erklärt.

Die visuelle Opulenz der neuen Folgen kann nicht immer darüber hinwegtäuschen, dass die Ideen für das, was uns der technische Fortschritt noch bescheren kann, langsam ausgehen; und dass durch Action bekannte Regisseure wie Jodie Foster (die mit «Arkangel» eine etwas klischeehafte Helikopter-Mutter-Kind-Geschichte im Überwachungszeitalter inszeniert) und Spielfilmlänge dieses Problem nicht unbedingt ausgleichen. Ein eleganter Ausstieg ist auch für Serien kein schlechter Vorsatz. Umso schöner, dass alle 19 Folgen seit 2011, die nach keiner bestimmten Anschau-Reihenfolge verlangen, im Internet zu sehen sind. Denn bei allen Bedrohungen, die Charlie Brooker nicht zuletzt im Worldwide Web lauern sieht: Dass sich dort so inspirierende wie berührende Geschichten und Denkspiele wie «Black Mirror» auf ewig speichern lassen, gehört eindeutig auf die Habenseite des Fortschritts.

Barbara Burckhardt

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Die unheimlichste Figur dieses Films ist die Heldin, Mildred Hayes, gespielt von Frances MacDormand, und so wunderbar gespielt, so überzeugend und sympathieerregend, dass man, wenn man nicht höllisch aufpasst, kaum mitbekommt, wie unheimlich sie ist. Ihre Teenager-Tochter ist vor sieben Monaten vergewaltigt und ermordet worden, und die Polizei hat bislang niemanden verhaftet, «How come, Chief Willoughby?», lässt sie auf der letzten von drei Reklametafeln, die sie gemietet hat, in großen Lettern fragen.

Der Polizeichef (Woody Harrelson) verteidigt sich, man habe alles unternommen, aber eben, trotz gesicherter DNA-Spuren, keinen Täter ermitteln können, was er zutiefst bedaure; ihr Eindruck, man habe den Fall verschlampt, sei schlicht falsch, und es sei unfair, ihn persönlich anzugreifen. Im Übrigen habe er Krebs im Endstadium.

In jedem gewöhnlichen Film, geschweige im wirklichen Leben, würde die wütende, verzweifelte Mutter einsehen, dass sie Unrecht hat und die aggressive, insinuierende Kampagne abbrechen – nicht in «Three Billboards Outside Ebbing, Missouri» (2017), im Gegenteil: Es wäre ja sinnlos, ihn erst anzugreifen, wenn er bereits tot ist, lautet Mildreds Antwort, über deren Schlagfertigkeit und Dreistigkeit man unwillkürlich lachen muss, bis einem ihre Gnadenlosigkeit aufgeht. Doch im Gegensatz zu den meisten Einwohnern von Ebbing, die es mit dem Chief halten, verzeihen wir es ihr, denn einer Mutter, die solch einen Verlust, solch ein Unglück erlebt hat, verzeiht man, fernab vom Schuss, fast alles.

Das ist das moralische, dramaturgische Prinzip des Films: Mildred darf sich sozusagen alles erlauben in ihrem Feldzug gegen eine, wie sie glaubt, desinteressierte, korrupte Polizei, von Beleidigung über Körperverletzung und Verprügeln von Jugendlichen bis hin zum Brandanschlag auf die Polizeistation mit Molotow-Cocktails – dass ein Officer fast mitverbrennt, ist insofern für uns unproblematisch, als es sich dabei um den rassistischen, brutalen, leicht behämmert wirkenden Jason Dixon (Sam Rockwell) handelt, der es eigentlich nicht besser verdient hätte (außerdem lebt er immer noch bei seiner alten, bösartigen Redneck-Mutter, er muss also, nach Kinologik, irgendwie pervers sein). Wir werden zu Mildreds Komplizen gemacht, häufig durch einverständiges Gelächter über ihre wütenden Aktionen.

Wenn die Justiz versagt, bleibt nur die Selbstjustiz, und deshalb fordert Mildred Hayes von Sheriff Willoughby, hundert Millionen Männern DNA-Proben entnehmen zu lassen, wenn nur so der Täter ermittelt werden könne (bloß gut, dass es die Bürgerrechtsbewegung gibt, murmelt der vermeintliche Rassist vor sich hin). Mit anderen Worten, Mildred ist verrückt, vielleicht vor Kummer, aber trotzdem verrückt. Sie ist in ihrem Kreuzzug für Gerechtigkeit eine Gefahr für den Rechtsstaat, für die liberale Demokratie, aber trotzdem mögen wir sie. 

«Three Billboards» führt ein Experiment durch, mit uns, dem Publikum: Wie sehr wird uns der Film mit seinem Witz, seiner Raffinesse, mit seinen durchweg grandiosen Schauspielern, der schönen Musik von Carter Burwell und dem ausgekochten Drehbuch und der souveränen Regie von Martin McDonagh dazu bringen, Mildreds Rachefeldzug gutgelaunt zu akzeptieren? Wir werden manipuliert, und wir bemerken es, als deutlicher wird, dass die gute Mildred ganz so gut nicht ist, wie wir dachten, und auch nicht so sehr im Recht, wie es zuerst aussah. Denn der Chief ist offensichtlich kein korrupter Polizeiarsch, sondern ein kluger, warmherziger Mann. Der brutale Officer Dixon ist zwar ein Rassist, aber hat doch ein gutes Herz, irgendwie. Sogar die lächerliche Geliebte von Mildreds Ex, eine neunzehnjährige Doofblondine, darf zum Schluss ein bisschen Würde behalten. 

Der Regisseur wirft keinen Protagonisten dem Publikum zum Fraße vor, als Klischee und Witzfigur dem Gelächter preisgegeben. Und auch das ist Teil des Experiments, uns immer mehr in die Widersprüche nicht nur dieses Films, sondern des Lebens zu verstricken: Dass wir Gerechtigkeit oder zumindest Rache wollen, wenn uns Unrecht getan wurde, und zwar um jeden Preis, entgegen unseren ansonsten liberal-vernünftigen Ansichten, iustitia fiat et pereat mundus.

Wie schon in «Brügge sehen … und sterben» und in «7 Psychos» konfrontiert uns der Regisseur auch hier mit einer sehr ausgedachten, fast boulevardtheaterhaften Geschichte (mit einem wirklichen Städtchen in den wirklichen USA hat Ebbing wenig zu tun, das hat sich der Ire McDonagh als Schauermärchen erfunden), sie wird in großem Tempo erzählt, mit überraschenden Wendungen, so dass wir kaum Zeit haben zu bemerken, wie sehr mit uns gespielt wird: Unsere Instinkte dominieren unseren Verstand, wie so oft im Kino. 

Das klingt jetzt schlimmer, als es ist, «Three Billboards» ist kein tiefgründiges und etwas schwerfälliges Traktat über Moral und Manipulation, über Recht und Rache, sondern von souveräner Intelligenz und Kunstfertigkeit, springt mit einem Witz elegant über jedes Problem hinweg, anstatt es zu lösen, als sei der Film von den Coen-Brüdern oder Billy Wilder oder Preston Sturges. Erst wenn man das Kino verlässt, amüsiert und agitiert und ein bisschen verstört, beginnt man zu ahnen, dass man einem Test unterzogen wurde, den man höchstwahrscheinlich nicht bestanden hat, wenn einem Frances MacDormand nicht äußerst sympathisch geblieben, Mildred Hayes aber ziemlich unheimlich geworden ist.

Kurt Scheel