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Jeder darf alles

Ein Gespräch mit dem Opernregisseur Johannes Erath

Ich glaube, dass wir im Theater und vor allem im Musiktheater die unglaubliche Gnade besitzen, dass wir die Zeit bescheißen können.

Das müssen Sie mir erklären.
Ein gesprochenes Wort ist immer Jetzt-Zeit. Musik oder ein gesungener Satz können dazu führen, dass die Zeit, obwohl sie real weiterläuft, langsamer oder schneller läuft. Oder im allerbesten Fall stehenbleibt. Sie wissen ja, Augenblick, verweile doch ... Das kann Musik leisten. Und es ist ein unfassbares Geschenk, dass dergleichen existiert. Deswegen wird auch das Genre nicht sterben, obwohl es längst totgesagt ist. Weil es genau das vermag: dass wir entweder schneller oder langsamer werden – oder sogar abheben. Und weil wir dann im Jetzt sind. Angst hat immer nur mit Vergangenheit oder Zukunft zu tun. Im Jetzt sind wir angstfrei. Auch wenn es gleich wieder vorüber ist. Wenn ich im Jetzt bin, bin ich ruhig.

Sind Sie im Jetzt, wenn Sie auf eine Probe gehen?
Ja. Da könnte draußen die Welt untergehen.

Darf ein Hospitant bei Ihnen zehn Sekunden zu spät zur Probe kommen? Oder rasten Sie dann aus?
(lacht) Ich raste sehr selten aus. Und nicht in einem solchen Moment.

Wann dann?
Das passiert, wenn etwas wirklich zu viel wird. Aber das geht auch anders und hat im Endeffekt mit der Tatsache zu tun, dass eine Gruppe von Menschen, Chor oder Orchester, anders funktioniert als ein Individuum. Bei einem Chor geht es nicht darum, dass die das gut finden, was ich mache. Es geht darum, dass sie spüren: Der weiß, was er will. Das wird schon bei der ersten Probe sondiert.

Üben Sie Macht aus? Zum Beispiel dann, wenn 80 Menschen Ihnen zuhören und merken, dass Sie wissen, was Sie wollen?
Der Job an sich hat etwas mit Macht zu tun. Und die möchte man ja auch spüren. Denn diese 80 Menschen wollen, dass derjenige, der vor ihnen steht, sagt, was zu tun ist. Ich glaube, es geht mehr darum, ob der Regisseur eine autoritäre Geste braucht oder seine Autorität durch das Wissen erlangt, durch Können, durch eine eingehende Beschäftigung mit dem Stoff, dadurch, dass er für etwas brennt.

Ist das schwieriger geworden in der jüngeren Vergangenheit?
Ja. Und das hat auch einen Grund. Wir reden über die Form, nicht über den Inhalt. Und wenn wir so weitermachen mit dem Diktat der Political Correctness, laufen wir Gefahr, dass der Schuss nach hinten losgeht. Im Theater darf jeder alles machen: Wenn wir diese Prämisse aufgeben und diesen Urzustand des Theaters ad absurdum führen, können wir den Laden gleich schließen. Für mich ist das die Grundverabredung, und das seit den griechischen Ursprüngen: dass jeder alles spielen kann. Und eben nicht spielen darf. Dürfen meint, schon dass jemand jemandem anderen etwas erlaubt. Auf dieser Erde hat nichts einen Wert. Jemand oder etwas hat genau so viel Wert, wie wir ihm zusprechen.

Das gesamte Interview von Jürgen Otten lesen Sie in der Januarausgabe von Opernwelt