
Rezensionen #3
Schauspiel, Oper und Tanz
Berlin, Essen, Hamburg
Berlin: Monteverdi «L'Incoronazione di Poppea»
Premiere am 9.12.17 an der Berliner Staatsoper
Als Claudio Monteverdis «L'Incoronazione di Poppea» 1642 in Venedig uraufgeführt wurde, gehörten Opernbesuche zu den Festivitäten des Karnevals. Sehen und gesehen werden, den gesellschaftlichen Status demonstrieren, darum ging es, der Musikgenuss war willkommenes Beiwerk. Wer durch die jetzt wieder allseits blinkende und glänzende Staatsoper unter den Linden wandelt, wird feststellen, dass nahezu vierhundert Jahre später das Bedürfnis des Sich-Zur-Schau-Stellens auch im Jeans Look weiterhin durchscheint.
Monteverdis Oper gilt als Meilenstein in der Operngeschichte, wurde doch erstmals eine schlüssige, gemäß dem Zeitgeschmack als «Sex and Crime»-Story angelegte Geschichte mit historischem Hintergrund auf die Bühne gebracht. Sie spielt «an einem Tag am Hofe Kaiser Neros im Jahre 62 n.Chr.», so die Vorgabe von Librettist Giovanni Francesco Busenello, also im dekadenten Rom, wo sich der brutale und herrschsüchtige Kaiser in Poppea, die Geliebte seines Feldherrn Ottone, verliebt. Seine Gattin Ottavia will Nero verstoßen. Der Philosoph Seneca rät ihr, die Demütigung zu ertragen, aber die dem Kaiser hörige Dienerschaft verhöhnt Seneca und Nero nötigt ihn zum Selbstmord. Die übrige Hofgesellschaft schaut seinem ausschweifenden Treiben tatenlos zu – vor allem um die eigene Stellung zu wahren. Ottavia sinnt auf Rache, sie spannt Ottone ein, der seine Geliebte Poppea ermorden soll. Das geht natürlich schief, und so muss Ottavia das Land verlassen. Die Venezianer des 17. Jahrhunderts konnten in der Oper zahlreiche Anspielungen auf das von ihnen gehasste zeitgenössische Rom mit seinem heruntergekommenen, jedoch weiterhin machtvollen Papsttum erkennen, das der immer noch stolzen Republik das Leben schwer machte.
Aber auch die Musik dieses letzten Werkes von Monteverdi läutete eine ganz neue Entwicklung ein, indem sie die Instrumentierung und Stimmen vervielfachte und vor allem die kongeniale Entsprechung von Gesang und Instrumenten zu einer nie gehörten Einheit vorantrieb. Dirigent Diego Fasolis entschloss sich mit der «Akademie für Alte Musik Berlin» zu einer reichen Orchestrierung, welche die Vielschichtigkeit der Musik durch absolute Präzision bei gleichzeitiger Sanftheit des Klanges überragend zum Ausdruck brachte.
Wie kann diese Barockoper aus dem Karnevals-Venedig heute noch berühren und verzaubern? Regisseurin Eva-Maria Höckmeyer wählte einen Weg, der mit viel Gold und Brokat auf der Bühne eine Anmutung der festiven Entstehungszeit schafft, zudem aber die Zeitlosigkeit gesellschaftlichen und politischen Intrigantentums zur Schau stellt.
Als sich nach dem temperamentvoll gespielten Vorspiel der Vorhang öffnet, blicken wir auf eine goldene Fläche mit schwarzen Einsprengseln, die bis über den leicht erhöhten Orchestergraben reicht, nach hinten ansteigt und schließlich als Rückwand bis in den Schnürboden reicht. Jens Kilian wollte damit eine Anlehnung an die Shakespeare-Bühne schaffen, die in den Zuschauerraum ragte und auch ohne Dekor war. In der Oper vorgesehene Auftritte von Göttern (Amor, Fortuna Virtú) werden von Kindern gesungen, die mit ihrem glockenklaren Sopran berühren, auch wenn ihre Soli naturgemäß den Saal nicht ganz füllen können. Nach und nach füllt sich die leere Bühne mit dem Ensemble, das immer präsent bleiben wird und mit ergänzten Handlungen im Hintergrund das gesungene und gespielte Geschehen im Vordergrund kommentiert.
So erscheint Ottone (Xavier Sabata), der Geliebte Poppeas, in einem gülden glitzernden Barockkostüm und klagt über ihre Untreue. Im Hintergrund ist sie zu sehen, gespielt und gesungen von Anna Prohaska, die sich fröhlich und lasziv mit Nero (Max Emmanuel Cencic) am Boden wälzt und aus der Ferne von Ottavia und der Hofgesellschaft beäugt wird. Mit ihrem nuancenreichen Sopran macht Anna Prohaska aus der Rolle der Poppea eine sinnliche und verführerische, aber auch kühl berechnende und machtgierige Figur. Schnell entledigt sie sich ihres schwarzen Seidenumhangs und wird fortan im engen Mieder mit schwarzen Strümpfen agieren, die keck mit Löchern an den Zehen eine gewisse Liederlichkeit andeuten. Kostümbildnerin Julia Rösler hat das Geschehen in die Zeit der Entstehung des Werkes versetzt – mit üppigen Reifröcken und Halskrausen sowie aufgetürmten Perücken der Hofgesellschaft.
Aber nach und nach entblättert sich die Pracht fast unmerklich und offenbart mehr und mehr das Körperliche der Figuren, die Kostüme kommen in der Gegenwart an. Auch die Bühne verändert ihr Aussehen stetig und ebenso unmerklich. Olaf Freese, Beleuchtungschef und Lichtdesigner für die Inszenierung, nutzt deutlich erweiterten Scheinwerferpark ausgiebig, um die Bühne mal in Silber, mal in Blau oder auch dunkel schimmernd erscheinen zu lassen und damit Tag- und Nachtwechsel zu suggerieren oder auch innere Stimmungslagen zu vermitteln. Das Licht ist auch das einzige den Bühnenraum gestaltende Element, das die Figuren visuell heraushebt.
Grelles Licht – Anna Prohaska und Nero. Durch die hohe Stimme wirkt der schmale Countertenor beinahe kindlich, zumal Poppea beim Liebesspiel die «Oberhand» behält und ihm ihre Begehrlichkeit, Kaiserin zu werden, physisch „darlegt“. Dass Nero nebenbei auch einen Mann, Lukan, liebt, stört sie keineswegs, sodass Zweier- und Dreierpaarungen sich munter abwechseln. Das Liebesspiel wird durch Senecas Auftritt unterbrochen. Im majestätischen Bass bringt Franz-Josef Selig seine Einwände gegen Poppeas Ansinnen machtvoll zu Gehör; vergeblich, er muss sich das Rasiermesser an die Halsschlagader setzen und wird von den Bediensteten wie ein Sack die Bühne hinuntergekugelt.
Poppea ist nicht zu bremsen, ihre sittliche Verderbtheit färbt allmählich auf die Entourage ab. Der ehemalige Geliebte Ottone, mit dem kräftigen großen Countertenor Xavier Sabata glänzend besetzt, muss einsehen, dass seine Rückeroberungsversuche vergeblich sind. Vormals im golden verzierten Gehrock mit Halskrause, irrt er zu Beginn des zweiten Aktes im Unterhemd über die Bühne. Zwischen Werben, Wut und Verzweiflung bewegt sich sein Gesang, und als sein Mordversuch misslingt, opfert er sich selbst. Ottavia, die große Verliererin, stimmt die von Katharine Kammerloher großartig gesungene Arie des Verlassenseins an, als sie von Nero verstoßen wird. Als sie ihr üppiges Kostüm abstreift, verbirgt sich darunter eine zweite Kleiderhaut – ein schmales Abendkleid. «Und ich werde einsam sein und weinend umherirren und die kalten Felsen Mitleid lehren» – ihr Klageruf rührt an.
Aber die Inszenierung gönnt auch Poppea keinen Erfolg. Notdürftig hängt sie sich einen roten Umhang um, und ihre Amme Arnalta, dargestellt von der Sängerlegende Jochen Kowalski, wiegt sie in einen unruhigen Schlaf. Für seine Schlusspartie erhält er kräftigen Zwischenapplaus, auch weil er trotz Erkältung großartig singt. Bei der Krönung ist das Jubelpaar doch mächtig zerzaust, statt inniger Umarmungen schauen sie in unterschiedliche Richtungen, Nero wendet sich seinen männlichen Gespielen zu, und Poppea zittert am ganzen Leibe – das Spiel ist aus.
Das begeisterte Publikum feierte die Eröffnungs-Inszenierung, die mit ihrem vielen Gold und Brokat auch eine Hommage an das Haus darstellt. Die Politik wollte, dass es statt in neuem wieder im alten Glanz erstrahlt, und umso größer wird die Herausforderung für zukünftige künstlerische Teams sein, mit dem historischen Prunk umzugehen und die Gegenwartstauglichkeit von Oper unter Beweis zu stellen. Sich die Geschichte zum Komplizen zu machen statt dagegen anzuspielen, ist ja nur eine – in diesem Falle wunderbare – Möglichkeit.
Karin Winkelsesser
Berlin: Hugo/Castorf «Les Misérables»
Wieder am 15., 16., 28., 29. Dezember, 6., 7. Januar im Berliner Ensemble
Standesgemäßer könnten «Die Elenden», die ihre Schicksalsverfasstheit wirklich eins zu eins im Namen tragen, kaum beginnen: Der 85-jährige Schauspieler Jürgen Holtz philosophiert sich durchs Pariser Kloakensystem. Und zwar mit einer Geistesklarheit, als lauere da ganz unten, in der französischen Hauptstadt-Kanalisation, das philosophische Erkenntnispotenzial eines Kant oder Hegel; mindestens. Das ist natürlich insofern großartig, als ja in aller Regel per se ein synapsenstimulierender Mehrwert abfällt, wenn man klugen (Bühnen-)Akteuren beim Denken zusieht – einerseits.
Andererseits weist Holtz` schätzungsweise zehnminütiger Kloaken-Monolog aber auch gnadenlos auf ein zentrales Problem des siebeneinhalbstündigen Abends voraus, den Frank Castorf – als erste Berliner Premiere nach seinem unfreiwilligen Intendanz-Ende an der Volksbühne – nun auf die deutlich kleineren Bretter des Berliner Ensembles gehauen hat. Nämlich, dass es dem zugrunde liegenden Roman – Victor Hugos 1.500-Seiter «Les Misérables» – eigentlich ein wenig an der Fallhöhe fehlt. Und zwar nicht nur zu Hegel oder Kant, sondern auch zu anderen literarischen Textgebirgen à la Dostojewksi oder (zuletzt) Goethe, die Castorf gern in seine Assoziations- und Diskursschleudermaschine wirft.
Eine vergleichsweise niedrigschwellige Rührseligkeit jedenfalls ist «Les Misérables» (mit denen viele nicht umsonst vor allem die gleichnamige Musical-Version verbinden) schwerlich abzusprechen: Der arme «Elende» Jean Valjean – so in etwa der zentrale Strang des personell wie plottechnisch üppig auswuchernden Romans – ist aufgrund eines läppischen Mundraubdelikts zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, die sich wegen diverser Fluchtversuche letztlich zu einem 19-jährigen Galeerendienst aufsummiert hat.
Und weil Valjean, den Andreas Döhler in einer angemessenen Mixtur aus subkutaner Aggro-Prolligkeit und sozialer Unterschichtsweichherzigkeit spielt, nach dieser düsteren Epoche das hochromantische Glück ereilt, auf den grenzenlos altruistischen, wiederum von Jürgen Holtz verkörperten Bischof Myriel zu stoßen, vollzieht sich an ihm eine Art idealtypischer Läuterungsprozess: Er steigt nicht nur zum solventen Industriellen, sondern sogar zum Bürgermeister auf und versucht als solcher, anderen «Elenden» unter die schwachen Arme zu greifen. Zum Beispiel der durch ein Kind in eine finanzielle wie soziale Höchstmisere geratenen Prostituierten Fantine, die bei Valery Tscheplanowa mit einer entsprechenden «Arm-aber-sexy»-Notstandshysterie durch den Abend wirbelt.
Weil nun aber 1.500 Seiten erfahrungsgemäß schwerlich hinreichen für ein Castorf-Werk von durchschnittlicher Arbeitstageslänge, verpflanzt der Regisseur die 1862 erschienenen «Elenden» ins vorrevolutionäre Kuba und speist – neben Heiner Müllers obligatorischem «Auftrag» – zusätzlich Passagen aus Guillermo Cabrera Infantes 550-Seiter «Drei traurige Tiger» ein, der ein paar Künstlern durch Bars, Nachtklubs und weitere kaschemmenverdächtige Örtlichkeiten im Havanna des Jahres 1958 folgt.
Doch weder die Romanverknüpfung noch Aleksandar Denićs Drehbühnen-Szenario, das verschachtelte Spiel-Parzellen zwischen schummrigen Halbwelt-Locations, historisierende (Gemüse-)Läden und adretten Bischofssitz aneinanderreiht, ändern etwas daran, dass die (Hugo`sche) Sozialstory inhaltlich im Grunde fix auserzählt ist. Jedenfalls wesentlich schneller als in siebeneinhalb Stunden. Künftig soll der Abend – wie das BE nach der Premiere mitteilte – denn auch in einer «Kurzfassung» à 6 Stunden und lediglich an ausgewählten Terminen in der long version zu sehen sein.
Apropos: Was die Frage nach der Verpflanzung des Castorf-Theaters von seiner angestammten Volks- an die alte ehemalige Brecht-Bühne betrifft, bleibt zu vermelden, dass der arbeitsbiografische Novitätsfaktor erwartungsgemäß vielen schauspielerischen Neulingen im Castorf-Kosmos deutlich anzumerken ist. Die Volksbühnen-Selbstverständlichkeit jedenfalls fehlt, auch und gerade im Zusammenspiel der Akteure. Andererseits ist sichtlich große Berufsleidenschaft im Spiel: bekanntlich nicht die schlechteste Voraussetzung für künftige dramatische Literaturbergbesteigungen.
Christine Wahl
https://www.berliner-ensemble.de/inszenierung/les-miserables
Essen: Smetana «Die verkaufte Braut»
Wieder am 16., 22. Dezember, 14., 18. Januar
Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – diese alte Behauptung, die später von den Nazis rassistisch missbraucht wurde, beflügelte im späten 19. Jahrhundert auch die tschechischen Turnvereine unter dem Label «Sokol» (Falke). Turnen und körperlicher Drill sollten die von Österreich unterdrückte Nation geistig, moralisch stärken; bald konzentrierten sich zudem kulturelle und soziale Aktivitäten auf die Turnhallen, die in fast jedem Ort aus dem Boden wuchsen.
Die Turnhalle als Lebens-, aber auch als Projektionsraum junger Menschen in Böhmen: Diese Idee ist für ein Setting von Smetanas bekanntester Oper «Die verkaufte Braut» also historisch durchaus plausibel. Der Bühnenbildner Martin Chocholoušek hat im Essener Aalto-Musiktheater die hohe Halle liebevoll mit Klettergerüsten, Basketballkorb, Punchingsack, Ringen und Spiegeln nachgestellt. Aber schon zur Ouvertüre, die Tomáš Netopil im Graben mit vorwärtstreibender Energie und nadelstichartig präzisen Streicherfugen musizieren lässt, kippt der realistische Raum ins Traumhafte. Komische Figuren wie aus dem tschechischen Kinderfilm spulen ihre Kunststücke und Gags ab – es ist das Zirkuspersonal aus dem dritten Akt, und es steht für die ständige surreale Überdrehung der Handlung, die letztlich nicht real, sondern ein Traum der hin- und hergestoßenen Braut Marie ist.
Das tschechische Regie-Duo SKUTR (deutsch: Motorroller) bebildert diesen (Alp-)Traum mit viel Klamauk und dennoch tieferer Bedeutung. Da werden der militärische Drill der Turnvereine und ihre beiden Erzübel persifliert: die Trinklust und die sexuelle Freizügigkeit, die hier vor allem die Frauen in kichernd lockere Mädchen verwandelt. Man trifft sich auf dem Herrenpissoir (das schon für Peter Konwitschny ein Ort für sprudelnde Männergespräche war), am Ende trudelt alles dem Showdown entgegen. Das ist gut erdacht, hat Tempo und Timing und ist nur in den Soloszenen manchmal etwas einfallslos. Aber SKUTR findet immer wieder den Dreh vom Slapstick zur Doppelbödigkeit und zur emotionalen Verletzung – vor allem ist das Duo hochmusikalisch.
Der Essener Opernchor fühlt sich in den köstlich überdimensionierten Kostümen von Simona Rybáková sichtlich wohl und spielt mit vollem Körpereinsatz, singt aber manchmal ungenau. An der Sprache kann es nicht liegen, denn man hat sich auf die deutsche Übersetzung von Kurt Honolka (mit Übertiteln!) geeinigt, die dem humorigen Treiben auf der Bühne einen musealen Schleier überstülpt. So müssen sich ein tschechischer Hans, eine kanadische Marie, ein russischer Wenzel und ein belgischer Kezal mit banalen Versen ohne Witz und Sinn herumplagen. Dabei bilden sie ein handverlesenes Ensemble: Richard Samek muss seine tenoralen Höhen etwas stemmen, ist aber sonst ein sicherer, sympathischer Hans; Jessica Muirhead gestaltet die Tessitura der Marie in erstaunlicher Ebenmäßigkeit, während Tijl Faveyts den Heiratsvermittler Kezal nicht als Polterer, sondern als modernen, fast eleganten Schlauberger gibt.
Natürlich hat sich vor allem Tomáš Netopil, der aus Mähren stammende Musikchef, diese Nationaloper der Tschechen gewünscht. Netopil tut das, was man auch von Dirigenten aus Wien mit österreichischem Repertoire kennt: Er unterläuft alle sentimentalen Klischees oder knödeligen Übergänge und setzt auf den rasanten Puls einer Komödie, die am Abgrund tänzelt. Schon in der Ouvertüre wirkt jeder Akzent wie ein Schlag gegen die Schläfe, Netopils Freude an rhythmischen und klanglichen Details trifft bei den Essener Philharmonikern auf ein hochmotiviertes, spielfreudiges Ensemble, das in jeder Phrase mit der Bühnenhandlung mitredet. Ein Genuss!
Michael Struck-Schloen
http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/die-verkaufte-braut.html
Hamburg: Rudolf Nurejew «Don Quixote»
Wieder 15., 21. Dezember, 13., 18., 21. Januar in der Hamburgischen Staatsoper
Im Parkett, Reihe 16, ist Frau Nachbarin schon zur Pause ganz aus dem Häuschen: «Wie herrlich! Endlich muss man mal nicht über die großen und kleinen Probleme des Lebens nachdenken, über Groko und Brexit und Syrien!» Stimmt, denn was das Hamburg Ballett in der Dammtoroper serviert, ist Kulinarik vom Feinsten. Hausherr John Neumeier hat seinen Wiener Kollegen Manuel Legris beauftragt, mit den Tänzern einen Edelklassiker einzustudieren. Der heißt zwar «Don Quixote», aber das entpuppt sich rasch als Etikettenschwindel. Denn in Wahrheit hocken Miguel Cervantesʼ Ritter von der traurigen Gestalt und sein Kumpan Sancho Pansa immerzu auf Kneipenschemeln herum. Sie sind nur Zaungäste der Hauptattraktion: der Liebesgeschichte zwischen der Wirtstochter Kitri und dem Barbier Basilio, die trotz stutzerhaftem Nebenbuhler und väterlichem Veto schlussendlich auf die Hochzeitsgerade einbiegt.
Freilich hat Neumeier nicht irgendeine Fassung aus dem Fundus holen lassen, sondern Rudolf Nurejews 1966 in Wien uraufgeführte Inszenierung. Die hatte der Starballerino angeblich schon im Gepäck, als er sich 1961 in Paris vom Sankt Petersburger Kirow-Ballett absetzte, um im Westen Karriere zu machen. Doch tatsächlich hat der Exilant die 1869 erstmals aufgelegte Originalchoreografie von Marius Petipa kühn retuschiert, weil er die traditionelle Vorherrschaft der Spitzenschuh-Diven brechen und den Männern zu mehr Brillanz verhelfen wollte. Also ertüchtigte er Basilios Auftritte mit allerlei Kabinettstückchen, modelte an den Pas de deux herum und würzte das Ganze mit einer gehörigen Portion Humor und Hispano-Flair.
Nurejews «Don Quixote» ist ein Spitzenerzeugnis des klassischen Tanzes, dem nur technisch versierte Ensembles gewachsen sind. Neumeiers Truppe ist für die Herausforderung bis in die Nebenrollen hinein bestens gerüstet, ja selbst der fünfzig Jahre alte Kulissen- und Kostümzauber von Nicholas Georgiadis hat nichts von seiner betörenden Wirkung eingebüßt. Die Herren imponieren als Tavernen-Matadore und angriffslustige Toreros, die Damen glänzen im satten Farbrausch rostrot, schwarz oder pistaziengrün schillernder Roben. Das ganze Ambiente leuchtet so intensiv, als hätten Goya, Velázquez und Anselm Feuerbach gemeinsam den Pinsel geschwungen.
Folgerichtig sind am Ende des Premierenabends alle Zuschauer aus dem Häuschen. Was durchaus verständlich ist. Ein so hübsches Vorweihnachtsgeschenk gibt es selbst beim genießerfreundlichen Hamburg Ballett nicht alle Jahre.
Dorion Weickmann
http://www.hamburgballett.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=146166