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Rezensionen #4

Augsburg, Hamburg, Freiburg

Augsburg: Ricardo Fernando «Schwanensee»

Wieder am 23., 28. Dezember, 4., 20., 28. Januar im Martini-Park

Das Augsburger Theater wohnt, so lange das große Haus saniert wird, im proper hergerichteten Textilviertel der Stadt in einem Zweckbau. Die Sicht von der Tribüne ist überall fabelhaft, während die ersten Reihen sozusagen mitten im Orchester sitzen. Es tost einem Tschaikowskys «Schwanensee» um die Ohren. Hinter den Musikern feiern Königs den 18. Geburtstag ihres Sohnes Siegfried. Der schaut zwischen Spiegeln auf die Trickprojektion eines Sees mit Schwänen, wo er seine Liebste wähnt: Odette.

Ricardo Fernando, gebürtiger Brasilianer, seit 1993 leitend und choreografierend an deutschen Stadttheatern unterwegs, hat nach zehn Jahren in Hagen Robert Conn in Augsburg als Ballettchef abgelöst. Er weiß also, was mit einer kleinen Kompanie nicht geht. Ein mit nur zwölf Schwänen erbärmlicher «Schwanensee» zum Beispiel – vom Rest der Besetzung ganz zu schweigen. Also hat er Hand angelegt, die Musik umgestellt und die ganze Aufführung auf knappe zwei Stunden verdichtet. Er kommt auf 16 Schwäne, weil neben acht Frauen ebenso viele Männer in bauschig gefiederten Hosen tanzen. Und das doch so ganz anders als sonst.

Fernandos Version ist nach wie vor Ballett, die Frauen tanzen auf Spitze, verfremdet durch rund fließende Bewegungen. Die Choreografie von Petipa und Ivanov blitzt nur noch in Zitaten auf, bei den Pas de chat der vier kleinen Schwäne natürlich oder der Flucht auf Spitze der Odette, bevor sie Siegfried, hier nunmehr gerettet, selig in die Arme sinkt. Die Schwäne schlängeln schwanengleich die Arme, das schon. Aber die Oberkörper senken sich dabei gefährlich nach vorn. Und der Prinz rollt den Brustkorb merkwürdig ein, wenn er zu akrobatischen Sprungkombinationen abhebt. Das Divertissement ohne die liebgewonnenen Nationaltänze gleicht einer Dinner-Party beziehungsweise einem Maskenfest, wo die Gäste den Raum in hohen Hebungen durchmessen mit wogenden Armen.

Es sind offenbar nur die Frauen, die der böse Zauberer Rotbart (Lucas Axel da Silva), hier ein düster-lockender Verführer, auch sexuell lebenslang zwangsverpflichtet. Prinz Siegfried hingegen hatte bis zu seinem 18. Geburtstag mit dem anderen Geschlecht offenbar noch nichts im Sinn. 

Sein Intimus aus Kindertagen, mit dem er schon mal tollend Ringelreihen tanzt, ist Freund Benno; seine bewunderte Liebe die schöne, noch recht jugendliche Mama. Weshalb er sich am See in diese mitleidheischende Vogelschimäre Odette (die hinreißende Jiwon Kim Doede) verguckt, dann aber bei der mütterlicherseits erwirkten Brautschau der libidinös ihn umgarnenden Rotbart-Marionette Odile erliegt (nobel: Karen Mesquita). Rotbart und Odile sind von Anfang an omnipräsent als leibliche Gegenspieler des Prinzen und seiner Odette, sinnliche Verführer die einen, nicht erweckte Unschuld die anderen. Schwarz steht gegen Weiß und mischt sich doch, zumal an diesem Abend, da der dunkelhäutige Brasilianer Marcos Novais den schmucken Prinzen Siegfried gibt.

Eva-Elisabeth Fischer

theater-augsburg.de/schwanensee


Foto: Signa/Erich Goldmann

Hamburg: Signa «Das halbe Leid» (Deutsches Schauspielhaus)

Wieder am 4., 5., 7., 10., 11., 12., 13. und 14. Januar 2018 in der Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck

Die Nacht an sich ist nicht das Problem. Das Problem ist das Einschlafen, der Moment, wenn ein Alb namens Dolores, «die Schmerzensreiche», ans Bett tritt und einen peinigt. Manchmal sitzt Dolores einem nur auf der Brust, das geht dann noch, unter Umständen wärmt sie sogar, aber meist zwängt sie einem die Augenlider auseinander. Oder sie nimmt einem den Atem. Oder sie zerrt einen tiefer ins Leid. Erzählt Wolfgang (Lorenz Vetter), eine ständig unter Strom stehende Gestalt, die ohne Unterbrechung Schläge zu erwarten scheint, ein verängstigter Typ, der augenscheinlich schon ziemlich tief im Leid steckt.

Das dänisch-österreichische Künstlerduo Signa hat zum dritten Mal einen seiner mittlerweile typischen Horrormitmachparcours fürs Deutsche Schauspielhaus gebaut, diesmal unter dem Titel «Das halbe Leid». Standort ist eine ehemalige Fabrikhalle im Hamburger Norden, wo ein obskurer Verein namens «Das halbe Leid e.V.» eine Art Obdachlosenunterkunft mit angeschlossener Therapieeinrichtung betreibt. In der Halle findet man zwei Schlafsäle von erschreckender Trostlosigkeit, Männer unten, Frauen oben, eine Küche, in der die von früheren Signa-Arbeiten bekannte dünne Gemüsesuppe vor sich hinmüffelt, diverse Arbeitszimmer, eine Bastelwerkstatt, ein Musikzimmer, einen Kiosk, vor allem aber findet man viel ungenutzten, schwach beleuchteten Angstraum.

Zusammen ergibt das wie immer bei Signa eine mit Freude am angeschmuddelten Detail ausgestattete, hermetische Welt (Kostüme: Tristan Kold und Signa Köstler, Bühne: Signa Köstler, Olivia Schrøder und Camilla Lønbirk). Und in diesem bedrückenden Umfeld bewegen sich die Protagonisten in einem ausgeklügelten Regelsystem, das einen Rahmen für die Interaktion mit dem Publikum herstellt. Wobei die Regeln in «Das halbe Leid» zwar ziemlich rigide sind, allerdings muss man bei diesen Regeln auch einrechnen, dass sich kaum jemand an sie hält: Alkohol etwa ist verboten, aber die Mitarbeiter scheinen einen florierenden Handel mit Dosenbier und Härterem aufgezogen zu haben. Oder: Nach 1 Uhr darf nicht mehr zwischen Frauen- und Männerschlafsaal gewechselt werden, allerdings halten sich ständig Frauen im Erdgeschoss auf und Männer im ersten Stock, teils sogar mit Ansage.

Als Gast (in der «Das halbe Leid»-Diktion: «Kursist») ist man einem Mentor («Leidender») zugeteilt, mit dem man zunächst diverse, mehr oder weniger professionell von sogenannten «Mitleidenden» angebotene Therapieangebote besucht und später die Nacht gemeinsam verbringt. Wolfgang also schleppt einen in einen Workshop der Mitleidenden Ute (Johanna Sarah Schmidt) im Bastelraum; man soll eine Skulptur als persönliches «Leidensbild» bauen. Woraufhin Ute den liebevoll gebauten Turm wenig einfühlsam umwirft. «Das habe ich doch gleich gesehen, dass der nicht stabil genug ist!», ätzt sie, was dem Grundsatz «Ich darf dich nicht beurteilen» zuwider läuft und von vornherein klarstellt, dass man sich in dieser Welt nicht sicher fühlen darf.

Dass die Produktion zumindest aus therapeutischer Sicht immer wieder die Grenze zur Verantwortungslosigkeit streift und bei entsprechend Vorbelasteten zu einer Retraumatisierung führen könnte – geschenkt. Auch der Horror, der in der Nacht über die Schlafenden hereinbricht, die Schreie, die Gewalt, die rohe Sexualität sind Teil des Signa-Prinzips, niemanden mit heiler Haut davonkommen zu lassen. Und dass man sich von «Das halbe Leid» noch stärker anfassen lässt als von früheren Arbeiten, hängt damit zusammen, dass man körperlich noch ein Stück näher an die derangierten Figuren des Stücks herangerückt ist als zuvor: Man trägt ihre Kleidung, man verbringt die Nacht mit ihnen, man geht mit ihnen im Wortsinn auf Tuchfühlung. Wenn man nach diesem Erlebnis durch die Stadt läuft, hat man jedenfalls einen anderen Blick auf die Junkies am Hauptbahnhof und die Bettler in der U-Bahn.

Empathie als politische Strategie freilich ist für Signa-Verhältnisse ein fast schon ernüchternd unterkomplexes Konzept, zumal es den Fokus nimmt von der Gruppe der «Mitleidenden», der ehren- wie hauptamtlichen Mitarbeiter des Vereins. Die nämlich wirken auf den ersten Blick wie freundliche Helfer, delektieren sich aber gleichzeitig am Leid der Gescheiterten. Einmal lässt sich der Mitleidenden-Chef Peter Freund (Julian Sark) von einem Schützling die Füße küssen, ein paar Sekunden zu lang, als dass man das als ungewollten Übergriff akzeptieren könnte. Und weswegen lassen die Mitleidenden die Gewaltexzesse im Schlafsaal zu? Und den offenen Alkoholkonsum?

«Ich bin überzeugt, dass man unsereinen, den Kellerlochmenschen, im Zaume halten muss», zitiert das Programmheft Fjodor M. Dostojewskijs «Aufzeichnungen aus einem Kellerloch» – «Das halbe Leid» ist nicht zuletzt perfide Machtarchitektur, in der Leid nicht gelindert, sondern gepflegt wird, subtil mittels Anheizens gruppendynamischer Prozesse, weniger subtil, indem den Leidenden der Glaube an die mal gütige, mal grausame Leidgöttin Dolores eingeimpft wird.

Vor allem ist «Das halbe Leid» aber: Kunst. Das übersieht man gerne, angesichts der Ausstattungswucht dieser Nacht, angesichts der Distanzlosigkeit, mit der das Signa-Theater einen berührt. Theaterkritik jedenfalls ist ein Eiertanz, wenn die Kritik sich mit der Tatsache beschäftigt, dass man die halbe Nacht wach liegt, weil «Wolfgang» einem wimmernd die Hand drückt – man läuft ständig Gefahr, vor der Überwältigungsästhetik zu kapitulieren, aus der Kritik einen Erlebnisbericht im «Mein schönstes Ferienerlebnis»-Stil zu machen und auf die Analyse des Abends zu verzichten.

Eigentlich schade: In der Analyse würde nämlich auffallen, wie überraschend konventionell das Signa-Konzept mittlerweile daherkommt. Schauspieler, die zwölf Stunden lang eins mit ihrer Rolle sind, Performance als konsequentes So-tun-als-ob: Das ist Theater aus der Mottenkiste. Mit dem kleinen Unterschied, dass keine vierte Wand mehr steht, dass man nichts vorgespielt bekommt, sondern von Anfang an ins Spiel integriert ist. Und dabei jede Distanz verliert.

Falk Schreiber

https://www.schauspielhaus.de/de_DE/kalender/das_halbe_leid.14968438

Foto: Tanja Darendorf/T+T Fotografie

Freiburg: Offenbach «Hoffmanns Erzählungen»

Wieder am 22., 25. Dezember, 13. Januar im Opernhaus

Da ging alles auf Anfang. Der neue Freiburger Intendant Peter Carp brachte bei seinem Opernstart mit Offenbachs «Hoffmanns Erzählungen» gleich drei neue Damenstimmen ins Spiel, die Karriere machen könnten und die verstärkte Hinwendung zu einer festeren Ensemblekultur signalisieren: Samantha Gaul als koloraturaffine Olympia, Solen Mainguené als hysterisch-dramatische Antonia, Inga Schäfer mit feinem, hellem Mezzosopran als Muse und Niklaus. Im letzten Augenblick sprang Sébastien Guèze am Premierenabend für den erkrankten Rolf Romei in der Titelpartie ein – und bewältigte die Aufgabe fabelhaft in jeder Beziehung: ein fesselnder Darsteller mit perfekt phrasierendem, flexiblem, auch in der oft anzusteuernden Höhe noch bestechend ausladendem Tenor. Ein glücklicher Umstand auch das vorteilhafte vokale Umfeld: mit Juanita Lascarro als sinnlich eingedunkelter Giulietta, Anja Jungs Alt-Kompetenz (Stimme der Mutter), Juan Orozco mit materialreichem, charakteristisch schnarrendem Bariton in den Erscheinungen von Hoffmanns Widersachern oder Roberto Gionfriddo, dessen variabler Tenor für die bizarren Dienergestalten wie geschaffen schien.

Eine weitere Novität: die Regie-Crew. Zum ersten Mal inszenieren Le Lab (unter Leitung von Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil) aus Bordeaux in Deutschland Oper. Neu ist ebenso, was sie mit Offenbach anstellen. Zwei Schauspieler (Stefanie Mrachacz, Thieß Brammer) mit weißen Helmen, in weißen Overalls tragen ein Schild mit einem Hölderlin-Zitat vor sich her: «Wozu Dichter in dürftiger Zeit?». Die ganze Aufführung ist mit solchen ästhetisch-politischen Fragen und klugen Statements unterlegt. Reflexion per Mikrofon, immerzu. Das Werk de- und wieder re-konstruiert – ein fast brechtisches Verfahren, das den Abend freilich immer auch in Richtung Schulfunk driften, die Oper nicht Oper sein lässt. Gespielt wird in einem weißgefliesten Labor. «Hoffmann» im Original gibt’s auch – schnipselweise, meist artig erzählt, manchmal auch mit ironischem Augenzwinkern. Wenn etwa der Titelheld  Olympia nur als Puppe ins Auge fasst, nicht das reale Mädchen, das auch da ist. Kaum vertretbar allerdings, wie die rahmende Stella-Handlung beiseitegedrängt, ja übersehen wird, so dass niemand so recht weiß, wer die Dame am Ende ist. Alles in allem: eine außergewöhnliche Anstrengung, die Respekt abnötigt.

Dazu gehört auch, dass philologisch sauber gearbeitet wird, (offenbar) alle obskuren Traditionszusätze gekappt sind. Soll heißen: keine «Spiegel­arie», kein Septett, so populär sie auch sein mögen und so gern man sie hört. Keineswegs neu ist, dass Freiburg in Fabrice Bollon einen ausgezeichneten Chefdirigenten hat. So passgenau wie hier ist aber auch er nicht immer. Schon das hohe Tempo zu Beginn lässt aufhorchen. Die Freiburger Philharmoniker halten mit – und mehr noch: Es ist nicht nur ein fast überstürztes, rasantes Musizieren, sondern eines voller Esprit, voller hüpfender Behändigkeit. Und von der wunderbar hingetupften pianissimo-Einleitung zur Barkarole, von mancher traumhaften Finesse war noch gar nicht die Rede.

Heinz W. Koch

http://www.theater.freiburg.de/de_DE/spielplan/hoffmanns-erzaehlungen.14953262