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Rezensionen 28.9.

Langgaard «Der Antikrist» in Mainz

Am 6., 15., 25. Oktober

Hätten sie es vergeigt, das Stück wäre nicht mehr zu retten gewesen. Aber GMD Hermann Bäumer, der mit einem überlauten Wirkungstreffer anfangs Luzifer höchstselbst (Peter Felix Bauer) auf die Bretter schickte, bekam die Klangbalance schnell in den Griff, bevor Vida Miknevičiūtė erschien, die sich dann das Orchester schlicht und ergreifend unterwarf. Einem Fixstern gleich phosphoreszierte ihr Auftritt als Große Hure über dieser an Glanzlichtern so reichen Produktion: der deutschen Erstaufführung von Rued Langgaards Mysterienspiel «Antikrist», entstanden zwischen 1920 und 1930, auf einer Bühne erstmals gezeigt 1999, in Innsbruck.

Langgaard hat uns 17 Symphonien mit programmatischen oder philosophischen Titeln hinterlassen, darunter die «Sinfonia interna», ein (fast nie zu hörendes) Hauptwerk des musikalischen Jugendstils. Lange vor György Ligeti schrieb er Sphärenmusik, lange vor Steve Reich Minimal Music. Er gehörte dem theosophischen Orden «Stern des Ostens» an, wütete gegen den atheistisch-materialistischen Zeitgeist und gegen Dänemarks Nationalkomponisten Carl Nielsen, der immer mehr Epigonen um sich scharte, während Langgaard als Organist in einem westjütischen Kaff verkümmerte. Sein eigenhändig verfasstes, auf die Johannes-Offenbarung gestütztes Libretto zum «Antikrist» beschwört den Untergang der westlichen Zivilisation herauf, historisch durchaus korrekt, was die Abfolge von sagenhafter Mystik, fortschrittsgläubigem Positivismus und Nihilismus betrifft. Im zweiten Akt wird Langgaard zum Propheten. «Die Begierde», verkörpert durch die Große Hure, thematisiert die Epoche des Sexus, der geistlosen Anbetung des Fleisches.

Ein Regisseur könnte hier durch den Aufmarsch von Typen diverser sexueller Orientierung sowohl Gelächter als auch Ärger provozieren. Anselm Dalferth aber verweigert sich jeder aktuellen Banalisierung; er nimmt auch den hasserfüllten «Kampf aller gegen alle», der uns vielleicht schon bald ins Haus steht, nicht zum Anlass für vordergründige Bekenntnisse, sondern belässt dem Stück seine Würde und Wirkung, die sich szenisch aus den Tableaus archetypischer Figuren ergibt – sämtlich Erscheinungsformen des Antichrist auf Erden. Dabei ist die personale Identität aufgelöst, Gott und Luzifer sind eigentlich nur Stimmen, die Hoffart erscheint als «Mund, der große Worte» spricht, die Große Hure hat notwendigerweise das stets anbetungswillige «Tier in Schlarlach» an ihrer Seite.

Dalferth und sein Team erzeugen eine Sintflut betörender, abstoßend schöner Bilder. In ihnen ertrinkend, durchschaut der Hörer mit letzter, apokalyptischer Klarheit jenes tragische Possenspiel, das sich Welt nennt. Die keineswegs witzlose Mainzer Inszenierung wagt viel: Sie reproduziert visuell – ohne Reduktionen oder Hinzudichtungen – die Magie dieser Musik, dieser betäubend-hellsichtigen Mixtur aus Wagner und Strauss, Fuge und Walzer, dissonant quälendem Ostinato und hymnischer Trance in reinstem Dur.

Da Langgaard überwiegend monologisch singen lässt, begegnet man der drohenden Monotonie durch vielfach tänzerische Rollengestaltung; insbesondere die doppelte Theophanie Gottes und seines Gegenspielers, zwei pantomimisch agierende Gestalten in Weiß und Schwarz, trägt zur dramatischen Belebung bei, ohne das Konzept Langgaards im Geringsten zu verfälschen. Gott und Luzifer liegen sich am Ende versöhnlich in den Armen, wie es fast jede Religion lehrt. Mainz vollbringt das besondere Kunststück, dieses Ende zu den seraphischen Klängen von Orchester und Chor glaubwürdig erscheinen zu lassen, ja geradezu zwingend überzeugend. Wer sich danach nicht flugs zu Krischnamurti bekehrt oder wenigstens zu seinem Jünger Langgaard, muss Atheist bleiben – oder Wagnerianer …

Gesungen wird eine deutsche Version des Librettos, die auf der kritischen, in Dänisch und (schwachem) Englisch vorliegenden Ausgabe der Edition Wilhelm Hansen beruht. Eine solche Übersetzung befördert hierzulande sicher die Aufführungschancen des grandiosen Werks, wenn auch den meisten Hörern das «Kirchen-öden-Lärmen» ähnlich unbegreiflich bleiben dürfte wie «Larmens-Kirke-Øde». 

Volker Tarnow

http://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper18-19/antikrist