Keusche Wollust
Giselle oder Die Erfindung der Hysterie
Das Amphitheater ist gefüllt bis hinauf in den letzten Rang. Kurz vor Beginn der Vorstellung betritt der Dompteur die Arena, von sechs bis acht Assistenten begleitet. Projektionsapparate werden justiert, Protokolle sortiert. Dann haben die Darstellerinnen ihren Auftritt – Frauen jeden Alters, Schöne und Hässliche, ausgemergelte Gestalten, verführerische Nymphchen. Die ungekrönte Königin der Menagerie heißt Augustine, eine 16-Jährige mit wallendem Blondhaar, draller Figur und lieblichem Gesicht. Augustine kann sich irrwitzig verbiegen und präsentiert zum Entzücken des Publikums alle Posen von somnambuler Trance und Erstarrung über gewalttätige Drohgebärden bis hin zu ekstatischen Verrenkungen. Was sie dabei empfindet, gibt Augustine auf Verlangen ihrer Betrachter zu Protokoll: «Ich war immer mit meinem Geliebten zusammen; meine Gedanken waren nur bei ihm, wo immer ich hinging, schien er mich zu sehen, zu hören und zu rufen. In den Momenten, wo ich alleine war, machte ich mich daran zu überlegen, wie ich es anstellen könnte, ihn zu lieben und ihn zu besitzen, so wie ich wollte; … aber wie mir schien, sagte er ‹Nein›; so war ich verwirrt, wütend über diese Antwort … ich wollte aufstehen, aber ich konnte weder meine Arme noch meine Beine bewegen. Dann, am Schluss, fühlte ich ein Wohlbehagen, das ich ihnen nicht zu erklären wage.»
Augustine ist das «Meisterwerk», das Star-Modell der wöchentlichen Lektionen, die um 1880 im anatomischen Hörsaal der Pariser Salpêtrière stattfinden. Unter den fünftausend Frauen, die im größten Hospiz Frankreichs eingesperrt sind, nimmt dieses Mädchen eine Sonderstellung ein: Mögen die anderen geistesgestört sein, verwirrt oder epileptisch – Augustine ist eine Hysterikerin, und nicht irgendeine, sondern die Hysterikerin par excellence. Jean-Martin Charcot, der Gebieter über das Irren-Asyl, ist so vernarrt in seine Patientin, dass er sie seit 1876 ablichten lässt, immer wieder. Er bannt ihre Anfälle auf fotografische Platten, er präsentiert Augustine regelmäßig anderen Experten. Der Nervenarzt hat sich vorgenommen, das Geheimnis der Hysterie zu entschlüsseln, das die Fantasie der Mediziner beflügelt. Schon der antike Paracelsus hat die ekstatischen Erscheinungen, die er ausnahmslos an Frauen wahrnimmt, eine «chorea lasciva» genannt, ein Tanz, eine Choreografie der Lüsternheit. Charcots Patientinnen, allen voran Augustine, scheinen diese Beobachtung zu beglaubigen. Sie winden sich in dramatischen Krämpfen, schneiden wundersame Grimassen, verdrehen die Augen, verknoten die Beine, stemmen den Unterleib im arc de cercle empor, sinken inbrünstig betend auf die Knie und erschlaffen schließlich im Delirium. Eine organische Ursache für ihre konvulsivischen grandes attaques lässt sich nicht finden. Auch Charcot wird vergeblich danach suchen und ebenso in die Irre laufen wie sein Laborant Bourneville und sein Kollege Ballet.
L’Opéra in der Rue Le Peletier: Carlotta Grisi gibt zum ersten Mal die «Giselle». Noch ist sie keine brillante Tänzerin, aber die 22-jährige Italienerin ist bildschön, hat einen reizvollen Körper und ein herziges Gesicht mit vergissmeinnichtfarbenen Augen. Der Librettist Théophile Gautier hat sich sofort in sie verliebt. In den nächsten Jahren wird sich Carlotta zur Koryphäe erheben. An diesem Abend im Juni 1841 legt sie den Grundstein für ihre atemberaubende Karriere: Carlotta Grisi verkörpert Giselle, wie Gautier tags darauf schwärmt, mit einer «keuschen und köstlichen Wollust». Wollust in der Keuschheit, Keuschheit in der Wollust? Jenes Paradoxon, das die Ballettomanen auf ihre Favoritinnen projizieren, scheint Carlotta aufzulösen. Auch Giselles Geschichte, von Gautier in leuchtenden Farben gemalt, kreist um diese scheinbaren Anatagonismen: Das lebenshungrige Dorfmädchen sieht sich vom Grafen Albrecht, der ihm inkognito den Hof macht, betrogen, im Liebesspiel getäuscht; verzweifelt setzt es seinem Dasein ein Ende. Im Reich der Schatten findet Giselle sich wieder, unter den Wilis, jenen «Seelen der nach Verlobung gestorbenen Bräute, (die) zu nächtlichem Umherschweifen genöthigt sind. Werden sie eines Mannes ansichtig, so muss er so lang mit ihnen tanzen, bis er todt ist.» (Therese von Artner, 1822).
Die Widergängerin Giselle bewahrt den Grafen vor diesem Schicksal – um den Preis ihrer eigenen Existenz. Zum Schluss sinkt sie endgültig ins Grab. Der Tanzfuror, den Gautier beschwört, ist – Wollust und Keuschheit– auf doppelte Weise sexuell konnotiert: Giselles irdisches Finale, halb Tanz, halb Pantomime, spiegelt die Sehnsucht nach Vereinigung, die bebende Erinnerung an die Liebesbezeigungen Albrechts; die Wilis wiederum, die nächtliche Totentänze zelebrieren und vorbeikommende Männer ins Verderben stürzen, haben die Hochzeitsnacht nicht erlebt. Sie sind Opfer eines uneingelösten Versprechens, zerstörerische Racheengel, die nach neuen Opfern gieren. Giselles Abschied von der Welt, den Gautier als Schlussakkord des 1. Akts entwirft, gleicht unübersehbar dem großen Ausbruch: «Ihr Kopf gerät in Verwirrung, ein schreckliches und düsteres Delirium bemächtigt sich ihrer, als sie sich verraten, verloren, entehrt sieht! … Ihr Verstand wird irre, ihre Tränen kullern, dann lacht sie ein nervöses Lachen … Die Liebe zum Tanz flammt noch einmal in der Erinnerung auf: … Sie stürzt los, beginnt sehnsüchtig und leidenschaftlich zu tanzen … Ein letztes Seufzen entringt sich ihrer geschundenen Seele, sie wirft … Albrecht einen traurigen Blick zu, bevor ihre Augen sich für immer verschließen!» (Gautier, Libretto zu «Giselle», 1841). In die Nomenklatur eines Jean-Martin Charcot übersetzt, folgen hier präzise aufeinander: Hysterische Aura, epileptoide Phase des Zusammenbruchs, attitudes passionelles, Bewusstseinsverlust – das klassische Profil einer hysterischen grande attaque. Was verbindet Augustine und Giselle, Giselle und Augustine?
Die Hysterie, lehren die Ärzte seit dem Altertum, nimmt ihren Ausgang vom Uterus. «Pnix hysteriké», eine durch die Gebärmutter hervorgerufene Erstickung, hat schon Hippokrates als Auslöser ins Feld geführt. Über die Jahrhunderte hinweg mag sich das eine oder andere ändern, wird über Nymphomanie oder Frigidität, über «hysteria libidinosa» oder den «Schwachsinn des weiblichen Geschlechts» allgemein spekuliert. Der Sexualapparat aber bleibt der genius loci der Hysterie, obwohl die Mediziner daran scheitern, eine somatische Ursache dingfest zu machen. Jean-Martin Charcot versucht, den umgekehrten Weg zu beschreiten, die Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren und festzuschreiben. Er beobachtet die Symptome, klassifiziert deren Ordnung und beauftragt seinen Kollegen Paul Richer, ein synoptisches Tableau aller vier Stadien des «regelmäßigen Anfalls» mit typischen und variierenden Posen anzufertigen. Diese serielle Tabulatur, veröffentlicht 1881 in den «Études cliniques sur la grande hystérie» ist ein erstaunliches Dokument der Medizin- und Kulturgeschichte: Richer skizziert eine piktografische Notation, die den szenischen Ablauf, die Choreografie der Konvulsionen minutiös festhält. Die Frauen, die sich hier wollüstig winden, die zittern und schreien, die flehen und sich aufbäumen, sie vollführen aufs Vollkommenste jene chorea lasciva, die Paracelsus beschrieben hat.
Das Begehren ist ihnen sozusagen ex negativo eingeschrieben. Ihr dämonisches Gestikulieren, ihre leidenschaftlichen Gebärden imponieren als «Zurschaustellung des Mangels». Die Umarmung geht ins Leere, sie ist ein zügelloses Phantasma, ein Hirngespinst. Augustine hat es protokolliert. In der hitzigen Exaltation begegnen sich die Insassinnen der Salpêtrière und die Theatergeschöpfe Gautiers. Keuschheit und Wollust, Ideal und Märtyrerin – Augustine erlebt in der Hysterie, was ihr das Leben versagt; Giselle wiederum entflieht jener Wirklichkeit, die dem Liebeswahn nicht standhält, und gerät in den Bannkreis rachedurstiger Furien, deren ungestilltes Verlangen alles verzehrt. Augustine wie Giselle erinnern sich – die eine in der hysterischen Entrückung, die andere am Abgrund des Todes tanzend – an das Glück in den Armen des Geliebten. Diese Erinnerungen, diese «Reminiszenzen» sind es, die sich im hysterischen Anfall entladen. So wird es 1893 Sigmund Freud behaupten, der Schüler Charcots, der den neurologischen Blickwinkel von der körperlichen auf die psychische Ebene verlagert und dennoch das wesentliche Postulat seines Mentors erfüllt: «Der Sexualfunktion, in welcher ich die Begründung der Hysterie sehe …, wird den Charakter eines organischen Faktors wohl niemand absprechen wollen.» (Freud, «Vorläufige Mitteilung über den Mechananismus hysterischer Phänomene», 1893). Das sexuelle Leitmotiv, das die medizinische Tradition durchzieht, bleibt der Hysterie dank Freud erhalten. Die großen hysterischen Anfälle aber, die dramatischen Zusammenbrüche und ekstatischen Zuckungen – sie sind erstaunlicherweise verschwunden. Sigmund Freud kann nicht mehr darüber berichten. Mit Charcot, der im gleichen Jahr stirbt, wird das hysterische Pathos zu Grabe getragen.Inszenieren
Was Augustine und die anderen den Doktoren der Salpêtrière dargeboten haben, wird rückblickend als Inszenierung erkennbar: Sie reproduzieren das klinische Bild der Besessenheit, das ihre Aufseher fototechnisch und grafisch konserviert haben. Suggestion und Trugbild beherrschen das wissenschaftliche Amphitheater, denn die Ärzte spiegeln das erotomane Verhalten der Patientinnen kurzerhand auf diese zurück. So, wie Giselle am Ende den Wertekanon des Bürgertums reflektiert – sexuelle Entsagung, soziale Einpassung, weiblicher Verzicht –, füllen Charcots gelehrige Schülerinnen die Schablonen ihres Meisters. Augustine allerdings wird der Veranstaltung irgendwann überdrüssig. Sie unterlässt ihr hysterisches Gehabe, steigt sogar zur Hilfspflegerin im Corps der Wärterinnen auf. Nach einem Rückfall – «wiederholt werden Zeitabschnitte der Aufregung festgestellt, in denen sie Fensterscheiben zerschlägt», so heißt es in Bournevilles Krankenjournal – streift sie Männerkleider über und entkommt aus der Salpêtrière. Im Bauch von Paris taucht sie auf Nimmerwiedersehen unter. Giselle aber lebt fort, sie aufersteht in regelmäßigen Zyklen auf den Bühnen der ganzen Welt.
Unterdessen hat im Fin de siècle ein ganzes Heer lüsterner und hysterischer Kreaturen die Kunst erobert, auf den Leinwänden der Wiener Sezessionisten, in den orientalisch-schwülen Dekors eines Franz von Stuck, eines Hans Makart; in der Oper treten Carmen und Elektra an die Rampe, im Schauspiel öffnet Frank Wedekind «Die Büchse der Pandora» und zaubert Lulu hervor, eine neue Hysterikerin par excellence. 1928 schließlich preisen Louis Aragon und André Breton in der «Révolution surréaliste» die Hysterie als «poetischste Entdeckung des ausgehenden 19. Jahrhunderts» und verkünden: «Hysterie ist keine pathologische Erscheinung, sondern kann in jeder Hinsicht als höchstes Ausdrucksmittel angesehen werden.» Wohl wahr. Augustine ist tot, doch Giselles Schwestern gehört die Zukunft. Die leidenschaftliche Expressivität, die schillernde Farbigkeit, der Schmerz auch und die Qualen – sie strömen hinüber in die Tanzmoderne, der nicht zuletzt die Frauen ihren Stempel aufprägen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Dorion Weickmann