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Oper als Therapie

Ein Werkstattgespräch mit Tatjana Gürbaca

Was würde man tun, wenn die Gesellschaft eine Insel der Glückseligen wäre oder ein Sonnenstaat? Dann müssten Sie ja gar kein Theater machen. Sprich: Eigentlich müssten Sie glücklich sein, dass die Realität so ist, wie sie ist – weil Sie gegen diese Realität aninszenieren können.
Ein interessanter Gedanke. Dazu fällt mir ein Programmheft-Essay des ost­deutschen Schauspielregisseurs Sebastian Hartmann ein. Darin beschreibt er, wie beglückt er nach der «Wende» zunächst war, nach Frankreich reisen zu können, Käse zu essen und Wein zu trinken, kurzum: das Leben zu genie­ßen. Plötzlich aber habe er, während er sinnierend am Meer saß, einen Schock erlitten: Es sei ihm der Gedanke gekommen, dass sich womöglich nur die Grenzen verschoben hätten, und man trotzdem in einer Art Käfig säße. Und vielleicht muss dieser Käfig gar nicht gesellschaftlicher Natur sein. Wir Men­schen sind kompliziert genug, um uns unsere eigenen Käfige zu bauen, will sagen: Wir leben selbst schon in unlösbaren Widersprüchen.

Versuchen Sie, diese Widersprüche in Ihren Inszenierungen aufzugreifen? Theater verstanden als Therapie?
(lacht) Natürlich ist Inszenieren immer auch Therapie. Es befreit schon un­geheuer, wenn man auf der Bühne das Leben (nach)spielen darf. Das ist so, wie der Kulturhistoriker Johan Huizinga einmal gesagt hat: «Der Mensch übt das Leben im Spiel.» Wir tun nichts anderes. Regisseure und Sänger be­gegnen sich auf der Probebühne, und manchmal lässt man schon am ersten Tag wildfremde Leute aufeinander losgehen und einander in ewiger Liebe verfallen oder sich gegenseitig zerfleischen ... 

... siehe «Tannhäuser», Akt eins. Es treffen sich der homosexuelle Tenor in der Titelrolle und die superkühle Diva als Venus, und der Regisseur sagt: Jetzt macht mal Liebe ...
(lacht) Ja, das meine ich. Und doch wird damit wieder eine Realität erzeugt. Ich habe Situationen erlebt, wo Sänger, die wirklich in einer sehr starken Konkurrenz zueinander standen, plötzlich auf der Bühne ganz berührende, innige Szenen spielen mussten – beispielsweise in Peter Konwitschnys «Fal ­staff», wo zwei Baritone traulich miteinander auf dem roten Sofa turtelten. Natürlich hat das etwas mit den beiden gemacht.  

Konwitschny hat vor Jahren einmal den Satz geprägt, Theater sei der letzte Ort der Realität. Stimmt das?
Nun, so ganz nicht. Es gibt diese Realität schließlich auch noch außerhalb des Theaters. Und es wird immer schwieriger zu definieren, was Realität ist; den­ken wir nur an den weiten Raum der virtuellen Realität.

Das vollständige Interview mit Tatjana Gürbaca 
von Jürgen Otten finden Sie in Opernwelt 9-10/2019.