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Schauspieler des Jahres 2018

Eine Gratulation an Benny Claessens

Von Johan Simons

Du bist Schauspieler des Jahres, und das ist fantastisch. Du hast es verdient. Du hättest es auch schon früher verdient (aber dazu später noch mal mehr). Jetzt bist du es, und das freut mich total. Gefeliciteerd.

Schauspieler des Jahres. Oder muss ich das Wort Performer benutzen? Performer des Jahres? Künstler des Jahres.

Vielleicht muss ich kurz erklären: Ich kenne Benny Claessens schon sehr lange. Na ja, lange. Ich glaube, seit 2005. Damals arbeitete ich vor allem in Gent. Zusammengekommen sind wir dann später in München, an den Münchner Kammerspielen, 2010. Damals kam Benny Claessens mit mir und noch anderen Schauspielerinnen und Schauspielern aus Belgien und den Niederlanden nach Deutschland. In Amsterdam hatte er schon einen Preis gewonnen, für «Ritter, Dene, Voss». Und in München war seine erste Rolle bei Alvis Hermanis in «Ruf der Wildnis» von Jack London. Wie ich fand: eine fantastische Vorstellung. Weil du, Benny, wirklich wie ein Hund auf die Bühne kamst. Der Mensch als Hund. Uneitel. Und leidenschaftlich. Das war damals zusammen mit deinen Kolleg*innen Annette Paulmann, Walter Hess, Thomas Schmauser, Katharina Marie Schubert und Kristof Van Boven.

Ich glaube, du konntest damals auch schon von allen Belgier*innen und Niederländer*innen, die an die Kammerspiele kamen, am besten Deutsch. Du sprichst sowieso ein besseres Deutsch als ich. Ich glaube, dein Deutsch ist ziemlich akzentfrei. Immer habe ich gedacht, ich hätte gute Ohren, aber du hast bessere Ohren.

Wir haben von Anfang bis Ende in München zusammen in einem Haus gelebt. Wir sind auch beide zusammen umgezogen von einem Teil Münchens in den anderen. Aber eigentlich hast du im Innenhof der Kammerspiele gewohnt. Da, wo die anderen Mitarbeiter*innen und Künstler*­innen waren. Du warst immer im Innenhof zu finden, wenn du nicht im Probenraum warst. Ich nannte dich den Bürgermeister des Innenhofs. Vielleicht hast du das vergessen, dass ich dich so nannte.

Es ist mit dir immer ein Erlebnis, wo du auch erscheinst. Auch auf Instagram oder Facebook. Und besonders natürlich auf der Bühne.

Ich hab’s schon gesagt: Für mich hättest du schon längst diese Auszeichnung «Schauspieler des Jahres» erhalten können. Aber ich muss auch sagen, dass du bei dieser letzten Arbeit von Elfriede Jelinek und Falk Richter, «Am Königsweg», wirklich gestrahlt hast. In diesem Stück über Donald Trump, wo auch Elfriede Jelinek ab und zu selbst herumgeistert. Da erscheinst du auf der Bühne, mit Pelz und mit dem Globus aus Plastik, aus dem du die Luft ablässt. Wie ein Königskind beherrschst du die Bühne: verwöhnt, aggressiv, liebevoll, berührend, beängstigend. Man hat immer Angst, wenn du auf der Bühne erscheinst, weil man fürchtet: Der fängt doch hoffentlich nicht an, mit mir zu sprechen. Ok, du hast beim Gastspiel in Mülheim auch in den Saal gerufen: «Hallo, Ruhrtriennale» und «Ich als neuer Chef vom Schauspielhaus Bochum», da war ich nicht dabei, sonst hätte ich vielleicht auch geantwortet. Ich habe die Aufführung in Ham­burg gesehen, und man muss einfach sagen: In dieser Produktion «Am Königsweg» bist du der König. Das sage ich mit dem größten Respekt.

Aber für mich warst du auch ein King in «Accattone», 2015 in Dinslaken, in der Kohlenmischhalle bei der Ruhrtriennale. Eine kleine Rolle, deine Rolle, war schlussendlich wie eine Hauptrolle. Da warst du für mich schon Schauspieler des Jahres. Deine Rolle hatte noch nicht mal einen Namen, irgendwann hieß sie «Das Gesetz», ich glaube, du warst selbst erstaunt, wo der Name plötzlich im Programmheft herkam. Diese Rolle war zum Teil auch ein Zuhälter. Jedenfalls: Du hattest eine faszinierende Präsenz in dieser Geschichte von Pasolini, diesem italienischen Provokateur, mit dem du viel Ähnlichkeit hast. Du hast damals total verstanden, worum es bei dieser Arbeit ging, wie man eine Szene oder einen Gedanken Pasolinis in ein theatrales Bild übersetzt. Du hast es verstanden, eine Komik und Leichtigkeit in der brutalen Welt der römischen Randgebiete zu finden, und zugleich wusstest du, eine Tragik zu finden, die in jedem einzelnen von Pasolinis Charakteren wohnt. Nicht zu vergessen: die Musikalität. 

Für alle, die das damals nicht gesehen haben: Es gibt in der Geschichte einen Moment, in dem die Frau Maddalena, gespielt von Sandra Hüller, von einem Mann misshandelt wird. Das ist ja immer die Frage, wie man körperliche Gewalt auf der Bühne darstellt. Bei mir werden keine Frauen, keine Schauspielerinnen, auf der Bühne geschlagen (und falls sie geschlagen werden, müssen sie doppelt so hart zurückschlagen). Und Benny Claessens und Sandra Hüller haben dann diesen Tanz entwickelt. Ein Umschlingen, kraftvoll und auch kraftlos, zärtlich und auch gleichzeitig unangenehm, ein Schütteln und Springen von Körpern, ein Suchen und Sehnen, Greifen und Ausliefern, und immer wieder von vorn. Und dazu die Musik von Bach, gespielt vom Collegium Vocale Gent. Später sprachen die Menschen sehr viel über diese Szene. Völlig zu Recht. Das war moderner Tanz, wie ich das zum Beispiel von Jan Decorte kenne, den du sehr verehrst. Und wir hatten das nie geübt. Denn dazu hattest du keine Lust, das zu üben. Sandra übrigens auch nicht.

Ein Tänzer bist du sowieso. Und ein Sänger auch. Deine Stimme ist unfassbar schön. Ich kann dabei zu weinen anfangen.

Auch ein Provokateur bist du.

Vielleicht musst du jedes Jahr Schauspieler des Jahres werden. Das ist etwas, was zu dir passt. Ja, vielleicht ist das eine gute Idee, dass du ständig Schauspieler des Jahres wirst.

In «Am Königsweg» spielst du für mich im Grunde eine Vielfalt von Bomben. Du spielst und sprichst diesen Text von Jelinek auf ganz vielfältige Weise. Du tust nicht so, als könnte man das alles verstehen. Du kämpfst mit dem Text – und du kämpfst für den Text. Man spürt, dass du diesen Text diskutieren willst und dass du diesen Text im Theater dis­kutieren willst und das Theater selbst auch.

Du forderst das Theater heraus. Als Kunstform und auch als Betrieb. Du entwickelst ständig Theorien, wie Theater sein muss oder sein könnte. Und ich muss sagen, dass du deine Theorien auch in die Praxis umsetzt.

Als du in München zusammen mit Risto Kübar «Spectacular Lightshow Of Which U Don’t See The Effect» kreiert hast – das war überhaupt keine spektakuläre Lightshow. Das war ein großes, langes Gedicht, bei dem du dich mit Risto nackt über die Bühne bewegt hast. Aber nackt wird bei dir zu einem Kostüm.

Natürlich bist du auch ein verwundbarer Schauspieler. Verwundbar wie viele große Künstlerinnen und Künstler. Ich glaube, wenn man dir nicht richtig zuhört, das verletzt dich am meisten. Und das verstehe ich auch.

Du bist jemand, der das Publikum sehr gut direkt ansprechen kann. Wenn du in «Am Königsweg» auf die Bühne kommst, denkt man ständig: Wann bricht es aus ihm los? – Du weißt immer sehr gut, was für ein Publikum im Saal ist. Selbst wenn da 600 Leute sitzen. Es ist, als ob du jedermann kennst und erkennst. Du siehst, wenn jemand schläft, während du sprichst. Du siehst, wenn jemand dich hasst, wenn du sprichst. Du siehst, wenn jemand dich liebevoll anguckt.

Du siehst das alles, nimmst alles wahr. In München konntest du immer sagen, welche Leute in Reihe 5 saßen und auch in Reihe 20. Ein Rönt­genblick. Ein liebevoller Röntgenblick.

Wenn man dich trifft, hast du immer ein neues Buch oder neue Bücher dabei, die man unbedingt lesen muss. Du bist sehr belesen. Mich forderst du heraus, weil du Fragen stellst, an die ich bei einem Stück manchmal nicht gedacht habe. Ich glaube, das ist bei anderen Regisseur*innen auch so. Du verunsicherst kreativ.

Du bist immer sehr kritisch einem Stoff gegenüber. Du arbeitest nicht nur an deiner eigenen Rolle, sondern du guckst dir auch die Rollen der anderen an. Du guckst dir das ganze Stück an. Du guckst dir den Regisseur an. Für mich, als Regisseur, bist du wie ein Regisseur auf der Bühne. Wenn du gut drauf bist, Benny, bist du imstande, jedermann mitzunehmen. Du bist ein Stimmungsmacher. Was manchmal nervt, aber auch viel bringt.

Mit dir kommt man nicht in diesen Blödsinn, den ich oft von Schauspieler*innen im deutschen Theater erlebe: dass man wochenlang motiviert zusammen probt, aber zwei Wochen vor der Premiere dann das Zweifeln losgeht: «Ja, ja, wir haben gut gearbeitet, aber … jetzt erst mal gucken, wie es wird, schauen wir mal, abwarten, erst mal die Premiere sehen …» Mein Gott! Kein erfolgreicher Fußballcoach würde fünf Minuten vor dem Spiel zu seinem Team sagen: «Mal gucken, ob wir stark genug sind zu gewinnen.» Nein, Benny, so bist du nicht. Du kämpfst, mit offenem Visier und die ganze Zeit. Für die Sache. Du gibst dich völlig. Ich glaube, deswegen flüchtest du auch, wenn Leute, die sich vorher rausgehalten haben, plötzlich in den letzten fünf Minuten vor der Premiere kommen, um ganz herzlich «Toi, toi, toi» zu wünschen. Das hasst du. Ich auch.

Immer versuchst du, Verantwortung für die ganze Vorstellung zu tragen. Das ist nicht nur ein Versuch, das ist deine zweite Natur.

Deine Eigenständigkeit, Benny, finde ich ein Vorbild für andere. Dieser Gedanke: «Jede Sekunde, die ich auf der Bühne stehe, ist von mir und nicht von den anderen, den Autor*innen oder Regisseur*innen.» Du lässt dich wohl inspirieren, negativ wie positiv, von deinen Kolleg*innen, du machst mit – aber aus deinen eigenen Gründen. Auf deiner eigenen Grundlage. Du bist bei dir selbst und gehst von dir selbst aus.

Ja, ich bin stolz, dass du Schauspieler des Jahres geworden bist. Aber ich bin genauso stolz darauf, dass du in Gent eine fantastische Regie­arbeit gemacht hast: «Learning How To Walk» (mit Lara Barsacq, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Lisi Estaras und Risto Kübar). Das ging vier Stunden. Eine Vorstellung über nichts – und alles. Über das Sehen und das Hören und das Gehen und das Sterben. Kindlich und klug und wieder sehr zärtlich.

Ich finde dich wirklich einen talentvollen Regisseur, weil du imstande bist, deine Schauspieler*innen und Techniker*innen mitzunehmen auf eine Reise. Diese Reise ist immer suchend und hat doch einen weichen Boden, auf den man als Schauspieler*in auch stürzen kann, ohne sich zu verwunden.

Unsere erste Zusammenarbeit, du als Schauspieler, ich als Regisseur, war «Winterreise» von Elfriede Jelinek, 2011. Jelinek, zu der wir beide eine große Liebe verspüren. Deswegen ist es auch schön, dass du diese Auszeichnung bekommst für eine Arbeit von ihr. In «Winterreise» warst du eine Bankenbraut im Kleid, die mit dem Publikum geflirtet hat. Später haben wir noch «Die Straße. Die Stadt. Der Überfall» von Jelinek uraufgeführt, da warst du Rudolph Moshammer unter einer dicken Maske, und man hat doch ein verzweifeltes, einsames Herz schlagen hören und sehen können. Und auch bei «Das schweigende Mädchen» durften wir Jelinek zusammen aufführen, diesmal als Oratorium. Ich weiß, dass Elfriede auch ein Riesenfan von dir ist. Vielleicht seid ihr sogar Freunde. Das kann man dann wieder bei Instagram sehen.

Benny, ich habe gesagt, dass ich dich ungefähr seit 2005 kenne. Und ich finde, dass du eigentlich immer noch derselbe bist. Ich meine: Du bist gewachsen, bist unabhängig und hast deine eigene künstlerische Sprache gefunden und perfektioniert. Aber ich erkenne darin immer noch Benny Claessens. Vieles ist, seit wir uns kennengelernt haben, passiert, vieles davon in Deutschland. Und bei dir wird immer viel passieren. Triumphe, Demütigungen, Streit, Freude, Mut und Wut. Es gibt bei dir keinen Stillstand. Du bist ein unnachgiebiger, ein großartiger Schauspieler und Künstler. Und ob du in England spielst oder in Deutschland oder Belgien oder den Niederlanden: Du bist geboren als Benny Claes­sens, und du wirst, irgendwann in der Zukunft, sterben als Benny Claessens. Du bist für mich ein Phänomen.