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Inszenierung und Stück des Jahres 2018

Falk Richter über Elfriede Jelineks «Am Königsweg»

«Am Königsweg» ist, wenn wir richtig rechnen, Ihre erste Inszenierung eines Stücks von Elfriede Jelinek?
Nicht ganz. Ich habe vor zehn Jahren am Wiener Akademie­theater «Ernst ist das Leben» inszeniert, eine Überschreibung von «Bunbury». Aber das war natürlich kein typischer Jelinek-Text. Da gab es noch Figuren, Dialoge, entliehen von Oscar Wilde. 

Wie ist es Ihnen denn ergangen, als Sie zum ersten Mal die 93 Seiten von «Am Königsweg» in vollen Zügen gelesen haben? 
Ich habe schon nach 20 Seiten gemerkt, dass ich da Gesprächsbedarf habe und Hilfe brauche. Es war gleichzeitig faszinierend und überfordernd. Es gibt ja eine lange Tradition von Jelinek-Inszenierungen unterschiedlichster Regisseure, mir persönlich sehr in Erinnerung ist Christoph Schlingensiefs «Bambiland», da hat er eigentlich nur zehn Prozent des Textes übriggelassen. Von daher war mir klar, dass ich nicht die ganzen 93 Seiten auf die Bühne bringen muss. Dann habe ich angefangen, den Text richtig durchzuarbeiten.

Es gibt ja ganz grob zwei Jelinek-Zugriffe: Entweder man versucht wie Jossi Wieler, doch eine psychologisch funktionierende Situation aus dem Text zu destillieren, oder man wendet eher wie Nicolas Stemann Jelinek-Technik auf Jelinek-Text an: baut Nummern, die sich gegenseitig ins Wort fallen, dementieren, Perspektiven auffächern und wieder verwischen. «Am Königsweg» in Hamburg ist aber nochmal etwas ganz anderes.
Wir haben zunächst mit dem Team – Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann, Kostümbildner Andy Besuch, Dramaturgin Rita Thiele und ich – eine Woche das Stück gelesen und versucht zu durchdringen. Am Tag haben wir nur 10 bis 15 Seiten geschafft. Für mich waren von Anfang an zwei Aspekte wichtig: einmal eine Art ironische Heidegger-Überschreibung, was das denn für Kräfte sind, die jetzt auf einmal wirksam werden. Warum kommen bestimme Leute jetzt wieder an die Macht, wer ist der weiße junge Mann, der da plötzlich wieder die Bühne betritt, was wollen diese Leute? Das ist der eine Strang. Das andere ist sie selbst: Wie stark sie sich selbst ins Spiel bringt, wie sie ihr Älterwerden thematisiert und ihre Unfähigkeit, auf diese aktuelle Situation politisch zu reagieren, ihr Eingeständnis, mit ihrer komplexen Sprache niemals die Mehrheiten zu erreichen. Das waren die zentralen Themen. Die eigentliche Fleißarbeit hat dann Rita Thiele übernommen: zu untersuchen, was sich doppelt, dann die interessantesten Passagen herauszusuchen. Wir wollten zu Beginn der Proben eine Fassung haben, die zwar nicht unumstößlich ist, aber schon ein Gerüst. Sonst erschlägt das Material die Schauspieler. Man muss ja auch ganz ehrlich eingestehen, dass man in diesen 93 Seiten beim Lesen oft genug verloren ist. 

Selbst Rita Thiele?
Rita Thiele war unser Jelinek-Lexikon. Sie hat schon viele Inszenierungen ihrer Texte begleitet, man kann sie immer fragen, und sie hat auch immer eine Antwort – oder sie sucht nach einer. Manchmal sagt sie aber auch: Das ist eine Kunstsprache, die kann man nicht immer bis ins Letzte verstehen. Und das müssen wir auch nicht. Auch das Publikum wird nicht alles verstehen. Das ist übrigens auch die Reaktion, die ich oft höre: Die Zuschauer sind dran, verlieren manchmal den Überblick, kommen dann wieder in die Spur. Man macht sich so mit dem Publikum gemeinsam auf den Weg, Elfriede zu folgen ...

... das Orakel spricht ...
... und hat uns etwas mitzuteilen, auch wenn wir’s nicht immer sofort begreifen. Das macht viel Spaß!

Wenn man die Strichfassung liest, sind es etwa ein Dutzend Bilder, die vor allem nach Personengruppen sortiert sind: der Chor der ratlosen Liberalen, der König, die Generäle ...
... die Anhänger von Trump, die Muppet-Show der überdrehten Entertainment-Welt, die völlig überforderten linken Intellektuellen, der weiße junge Mann und zwischendrin immer wieder die Autorin. Diese Bilder haben sich zum Teil erst während der Proben ergeben, wir haben da auch sehr viel ausprobiert. Für die Bühne stand von Anfang an die Idee einer Art Fiktionsmaschine, die immer neue Bilder produzieren kann, die aber alle etwas gefaked und irreal wirken. Das orientiert sich auch an Trumps persönlicher Ästhetik, die ja immer aussieht wie eine etwas schäbige Versace-Werbung: völlig drüber, aber auch ein bisschen billig. Es gibt ja dieses berühmte Bild, auf dem er mit Familie in seinem Wohnzimmer thront, da ist auch dieser goldene Löwe aufgebaut, darauf sitzt sein Sohn, Melania weht vorbei. Elfriede Jelinek stellt ja auch immer wieder die Frage, ob diese Art Prunk etwas Neues oder Uraltes im Gewand des Neuen sei. Wir hatten auf den Proben auch immer das Material für die Trump-Anhänger – Ku-Klux-Klan, White-Trash-Campingwagen –, die sich nach einer neuen Führerfigur sehnen. Oder religiöse Symbole, denn die Leute, die Trump unterstützen, sind ja auch radikale Christen, die vergessene Arbeiterklasse. Dann hatten wir die Königsmäntel und den royalen Prunk. Dann natürlich die Liberalen, die Linken, die blinden Seher. Wir hatten das immer wie so eine Art Farbkasten auf den Proben mit den unterschiedlichen Zuschreibungen. Und die Schauspieler konnten sich bei den Improvisationen aus diesem Farbkasten bedienen. 

In diesen Farbkasten kam dann aber auch noch eine ganz neue Farbe, nämlich Idil Baydar.
Ich kenne sie aus dem Gorki Theater und wollte sie unbedingt dabei haben. Ihre Figur Jilet Ayse kommt aus dieser YouTube-Wirklichkeit, sie ist ein YouTube-Star und passt sehr gut in den Bogen von Ödipus zu Twitter, den Elfriede Jelinek aufspannt. Auch Trump kommt aus dieser Welt des Trashfernsehens, er hatte ja seine «The Apprentice»-Show und ist ohne Twitter und die neuen Medien undenkbar. Ich wollte auch das ganze Theaterspektrum von Ilse Ritter mit ihrem großen Bühnenhintergrund bis zu einer Comedien wie Idil Baydar, die ganz direkt die Zuschauer anspricht. 

Auch thematisch ist Idil Baydar eine Erweiterung: Migration ist in Jelineks Text eigentlich kein Thema.
Stimmt, aber es ist ein wichtiges Element in der Kette von Rassis­mus, der Angst vor allem Fremden zu White Supremacy. Die Idee für ihre Figur war, das haben wir zwischen uns so etwas lax festgelegt: «Weil es dich gibt, hat Trump gewonnen.» Also: Weil sie sich von Migration so bedroht fühlen, wollen die Weißen wieder ihr Land für sich alleine haben – Schluss mit Multikulti. Außerdem verknüpft sich über Idil Baydar die neue Rechte in Amerika mit der neuen Rechten in Deutschland. Idil Baydar bringt da ganz wichtige politische Inhalte mit in den Abend, ohne dass wir deshalb den Text umschreiben mussten. 

Elfriede Jelinek war damit einverstanden?
Sie hat mir später geschrieben, dass sie sie toll fand. Wir hatten vorher gar nicht angefragt. Ich hatte vorher nur ein paar Mal mit ihr gemailt wegen einzelner Punkte, und sie meinte dann irgendwann, das müsse alles ich entscheiden. Es sei völlig egal, was sie dazu denke, denn ihre Arbeit sei mit dem Text getan. Auch Nils Tabert vom Rowohlt Theaterverlag, der die Aufführungsrechte hält, hat mir vorher den Rat gegeben: Wenn ihr eine neue Fassung macht, müsst ihr mit der Axt auf das Stück draufschlagen, sonst geht es nicht. So war es auch. 

Weil wir gerade von Äxten reden: Benny Claessens, der ja eine tragen­de Rolle in der Inszenierung spielt, hat beim Berliner Theatertreffen dafür den Kerr-Preis bekommen. Juror und Laudator war Schauspielerkollege Fabian Hinrichs, der in seiner Preisrede ein paar Komplimente verteilt hat an das deutsche Regietheater und an fast alles, was zum Theatertreffen eingeladen war.
Ich erinnere mich. 

Und zwar meinte Fabian Hinrichs, nahezu alle Inszenierungen dort würden als Beweismittel taugen für die These des Wiener Kulturhistorikers Egon Friedell, Theater und Militär seien verwandte Brüder im Geiste. Er hat dann zu einer umfassenden Schauspieler- und Regiebeschimpfung ausgeholt, denn fast alle Schauspieler würden einem «preußischen Gehorsam» folgen, einem «erschütternden, wohl durch die Generationen hindurch gewanderten Erbe des preußischen Militarismus, als wäre man ein Soldat, der in der Kaserne einsatzbereit auf Befehle zu warten hat, während die selbsternannten und so oft überforderten Offiziere im Kasino Pläuschchen halten». Eine der wenigen großen Ausnahmen sei Benny Claessens. Sie waren bei der Preisverleihung anwesend. Was sagen Sie dazu?
Ich habe mich danach lange gefragt, was das denn für eine Aussage war. Sie wurde ja noch eingeleitet von einer zweiten Rede von Milo Rau, der sagte, das deutsche Stadttheater arbeite aus dem Geist der Konzentrationslager. 

Wofür er sich dann zwei Tage später etwas halbherzig entschuldigt hat.
Ja, Gott sei Dank. Deutscher Militarismus und Konzentrations­lager – offenbar geht es gerade nicht eine Nummer kleiner. Alle Schauspieler müssen schlecht sein, um einem einen Preis zu verleihen. Und alle Regisseure müssen KZ-Aufseher sein, nur um zu sagen, dass Milo Rau eine Inszenierung von René Pollesch gut fand, die er vor fast 20 Jahren gesehen hat. Da scheint es gerade so eine Aufregungsbegeisterung zu geben, die den gefühlten Wahrheiten eines Sprechers mit extrem krass gewählten Vergleichen Ausdruck gibt, aber keiner genaueren Nachfrage standhält. 

Dann fragen wir doch mal nach: Wie autoritär und militaristisch ist denn Ihre Regiearbeit?
Na, überhaupt nicht. Benny Claessens durfte ja eben machen, was er wollte! Natürlich mit meiner helfenden Beobachtung – seine Figur ist ja nicht als Revolte gegen mich entstanden. Es ging eben darum, einen völlig entfesselten Menschen auf der Bühne zu zeigen. Gerade dieses Übertreten aller Tabus, das Unberechenbare, das ist ja diese Qualität von Trump, die auch alle anderen Rechtspopulisten haben und die an ihnen so fasziniert – ob im Sinn von angeekelt oder begeistert: Da ist einer, der setzt sich über alles hinweg. Das hat viel mit Jelineks Stück zu tun, und so sollte deshalb auch der König sein. Im Übrigen findet meine Probenarbeit auf Augenhöhe mit den Schauspielern statt. Wir lesen gemeinsam die Texte, wir probieren aus, es kommt auch ganz viel szenische Fantasie von den Schauspielern. Viele Momente dieser Inszenierung sind in den Proben entstanden durch Ideen der Schauspieler. Sie entstehen natürlich nicht völlig losgelöst von der Regie, weil wir ja miteinander reden, ein Konzept haben und in diese Richtungen dann arbeiten. Und nach meinem Eindruck waren beim Theatertreffen in diesem Jahr keineswegs nur schauspielerische Servicekräfte und Befehlsempfänger am Werk. Ganz im Gegenteil. Und überfordert mit ihren Arbeiten schienen mir die eingeladenen Regisseure auch nicht zu sein. Aber so eine Rede hat natürlich Wirkung. Nicht zuletzt die, dass danach alle über Fabian Hinrichs geredet haben und kaum jemand über Benny Claessens. Deshalb fand ich das auch wirklich charakterlich schwach: Man vergibt nicht einen Preis, um zu sagen: Alle sind schlecht, alle sind Zombies und keine denkenden Menschen – außer diesem einen!

Klingt etwas vermessen.
Nicht nur das. Wer oder was ist eigentlich gemeint? Der Chor der Zirkusartisten in René Polleschs «Kill your Darlings», die um den Hauptdarsteller Fabian Hinrichs herumspringen, hat ja auch eine große Präzision und ist, wenn man so will, militärisch gedrillt, wie im Übrigen jeder Pollesch-Chor.

Dann reden wir doch besser über Benny Claessens. Was ist das für ein Schauspieler? Sie haben zum ersten Mal mit ihm zusammengear­beitet.
Benny ist wirklich sehr besonders, weil er sehr zart und feinfühlig ist und sich wahnsinnig viel traut. Da ist ein unglaublicher Mut, an Grenzen der Selbstentäußerung bis zur Selbstbloßstellung zu gehen, wie ich es selten erlebt habe. Er spielt den Text, den Kommentar zum Text und seine Verzweiflung über die politische Situation – alles in einer Satzfolge. Er attackiert den ganzen Rechtsradikalismus und das heteronormative Denken, indem er es aufruft, nachmacht und zerstört. Benny wirft sich da schutzlos rein und ist dabei erstaunlicherweise unglaublich präzise. Seine beiden großen Szenen, die wie wilde Improvisationen wirken, sind exakt gearbeitet und jedes Mal ziemlich genau gleich performt. Auch der Satz «Shame on you, Falk Richter» kommt immer an genau derselben Stelle. (Lachen) Dann denke ich mir auch immer, ja, Benny, dann mach doch mal einen Vorschlag, wie wir die vergessene Arbeiterklasse besser ins Theater integrieren. Aber das ist alles von ihm genau festgelegt, und ich habe ihm dabei geholfen. Er probiert aus, ich schaue zu, mache Vorschläge, wir sprechen darüber, wohin die Szene gehen soll, er probiert weiter. Meine Aufgabe ist es zu sortieren, die von ihm hinzuimprovisierten Texte zu konzentrieren. Die Königsszene im ersten Teil hat am Anfang dreimal so lange gedauert, dann haben wir sie gekürzt, ein paar Improspuren und Assoziationsketten rausgenommen. Sonst verliert man irgendwann den Faden und den Bezug zum Jelinek-Text. Natürlich ist ein Schauspieler wie Benny Claessens auch anstrengend im Prozess, schon weil man die anderen Schauspieler beruhigen muss: Warum darf der Benny das und wir nicht auch alle? Weil er der König ist. 

Wie sind Sie auf ihn gekommen? Er ist ja nicht im Ensemble des Hamburger Schauspielhauses.
Ich hatte ihn nach einer Vorstellung im Gorki Theater angesprochen, weil er eine ganz eigene freie Spielweise hat, sehr offen mit seinem Queersein umgeht und nicht versucht, es einzuhegen oder sich zu verstellen, um «normal» rüberzukommen. Er ist natürlich gerade kein ordinärer Macho wie Trump, aber er kann das produzieren und unterlaufen gleichzeitig. Außerdem spielt er ja nicht Trump, sondern einen entfesselten, infantilen König – also eine Art Theaterübersetzung. Wir haben uns dann verabredet, und ich dachte, wir machen das, wie man es eben so macht. Wir reden miteinander, ich schlage ihm vor, etwas von mir anzuschauen, schicke ihm ein paar Links. Und er meinte einfach, hör mal zu, wir können uns jetzt einen Monat lang so umkreisen und uns alles Mögliche voneinander anschauen und drüber reden, wir können jetzt auch einfach sagen: Wir machen das. Und so war’s dann auch. Das ist seine Haltung: Man lernt sich sowieso erst bei der Arbeit kennen. Benny ist super, aber man braucht auch starke Nerven! (Lachen

Stichwort infantile Könige. Das deutsche Stadttheater steht ja gerade heftig in der Kritik wegen fragwürdiger Hierarchien, Machtstrukturen und -missbräuche. Ist nach Ihrer Erfahrung das deutsche Stadt- und Staatstheatersystem ein Ort, der strukturell zu Machtmissbräuchen einlädt?
Ja, das würde ich auf jeden Fall so sagen. Die Macht ist schon sehr konzentriert auf den Intendanten, und wenn es auch noch ein Regie führender Intendant ist, dann hängt es im Grunde von seiner charakterlichen Integrität ab, ob er den Möglichkeiten zum Machtmissbrauch nachgibt oder nicht. Das zeigt sich schon darin, dass Regie führende Intendan­ten immer die besten Probenbedingungen haben, dass sie letztlich entscheiden, welche Schauspieler sie haben, dass sie auch mal Schauspieler rausreißen können aus einer schon bestehenden Besetzung eines anderen Gastregisseurs, und das ist noch der völlig legitime Bereich. Konkret über sexuellen Missbrauch kann ich nichts sagen, das könnte auch nur jemand, der an solchen Probenprozessen beteiligt ist. Ich habe an der Schaubühne, wo ich 18 Jahre gearbeitet habe, nur mitbekommen, dass es für die Schauspieler immer wichtig war, wie Thomas Ostermeier zu ihnen steht. Sie haben oft sehr darunter gelitten, wenn sie nicht genug Anerken­nung von ihm bekommen haben oder nicht oft genug besetzt wurden oder das Gefühl hatten, nicht genug Liebe von ihm zu bekommen. Oft war es bei Ostermeier so, dass er einen Star besetzt und alle anderen ein bisschen drumrum gruppiert, und dann stellt sich natürlich die Frage: Wer wird da als Star erwählt? Wer wird der neue Lars Eidinger? Und wer steht drumherum und spielt ihm zu? Das setzt eine sehr eigene Dynamik im Ensemble frei, die dem Intendanten sehr viel Macht gibt. Im Moment arbeite ich am Gorki Theater und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, zwei Intendantinnen, die ich als wahnsinnig fair empfinde. Da habe ich bislang immer alles bekommen, was ich brauche. 

Karin Beier ist Regisseurin, Shermin Langhoff nicht. Ist Letzteres in dieser Hinsicht besser?
Schwer zu sagen. Ein Regie führender Intendant kann dem Haus eine eigene Ästhetik vorgeben, kann mit Regisseuren auch ganz anders reden, weil er/sie selbst einer ist. Allerdings empfinde ich als Gastregisseur es fast immer fairer an Häusern, an denen der Intendant nicht selbst Regie führt. Mal positiv formuliert: Regie führende Intendanten geben ja auch viel Arbeitskraft und -zeit in die Leitungsarbeit, davon wollen sie dann auch profitieren. Sie passen also nach meiner Erfahrung schon auf, dass sie öffentlichkeitswirksam vorkommen, die wichtigsten Premieren­slots bekommen, die prominenten Schauspieler bei ihnen landen, dass sie die besten Arbeitsbedingungen haben. Natürlich achtet Thomas Ostermeier an der Schaubühne darauf, dass er perfekte Bedingungen hat, ich glaube, es gibt in Europa keinen Regisseur, der so gute Arbeitsbedingungen hat wie Thomas. Das heißt nicht, dass meine schlecht waren, aber sie waren definitiv schlechter. 

Und die Machtverhältnisse zu den Schauspieler*innen?
Die gibt es ja auch in die andere Richtung, insofern ist meine Macht als freischaffender Regisseur an den Häusern, an denen ich arbeite, begrenzt. Eine Schauspielerin wie Julia Wieninger oder auch Benny Claessens oder Ilse Ritter könnten sich ja auch locker gegen mich entscheiden. Wenn sie nicht wollen, können sie ja jederzeit sagen, dass sie nicht bei mir spielen wollen. 

Oder sie könnten mit Karin Beier reden und andeuten, dass dieser Falk Richter in der nächsten Spielzeit nicht mehr in Hamburg inszenieren soll.
Genau. Und was die andere Richtung angeht, wenn ich zum Beispiel an den offenen Brief des Burgtheaterensembles zu Matthias Hartmann denke, da finde ich wichtig, dass ein Umdenken einsetzt. Man muss Schauspielerinnen nicht auf der Probe fragen, ob sie Sperma schlucken, wie es Hartmann in seiner Replik auf diesen offenen Brief selbst eingeräumt hat, weder Männer noch Frauen. Das ist auch nicht nötig, um einen Jelinek-Text zu verstehen. 

Was die Machtverhältnisse zwischen Intendanz/Regie und Schauspieler*innen angeht – hat sich das in den letzten 20 Jahren vielleicht zu Ungunsten der Schauspieler-Seite verschoben? Die Ensembles werden immer kleiner, der Spardruck größer, ihre Wettbewerbssituation immer schlechter. Damit ist die Macht des Schauspielers, die letztlich darin besteht, sich andere Intendanten/Regisseure zu suchen, automatisch kleiner geworden.
Sicher. Die Situation an der Schaubühne beispielsweise war Anfang der Nuller Jahre eine ganz andere. Da gab es Ensembleversammlun­gen, man hat sich einmal die Woche getroffen, um Stücke zu lesen, hat eigene Spielplanvorschläge gemacht. Was ich heute eher mitbekomme, etwa am Gorki Theater, ist, dass die Schauspieler über Erschöpfung klagen. Weil der Spielplan so voll ist und so viele Diskurse im Nebenprogramm bedient werden, die alle superspannend sind, aber eben auch anstrengend. Viele Schauspieler*innen sind in einem Zustand, wo sie es gerade noch schaffen, aber nicht mehr so richtig aus dem Vollen schöpfen. Da sollte die Leitung eines Hauses den Output auch wieder etwas zurückfahren und einfach weniger machen.

Sie arbeiten gerade in Stockholm am Königlichen Dramaten. Wie geht man dort mit den aktuellen Fragen um? 
Das ist sehr interessant. Am Anfang der Probe wurde das ganze Team zusammengeholt – Schauspieler, Regiestab, aber auch alle anderen Abteilungen –, und es wird eine «ethic policy» verlesen und diskutiert. Das klingt am Anfang ein bisschen wie bei den Vereinten Nationen ­– jeder ist gleichwertig, jede Meinung muss gehört werden, wir am Dramaten wollen die Welt kritisieren und müssen deshalb selbst ein Vorbild sein –, aber es wird sehr konkret: Sexueller Missbrauch und Machtmissbrauch sind nicht geduldet, und jeder, der sich in irgendeiner Weise schlecht behandelt fühlt, muss gehört werden und kann sich auch an eine genau festgelegte andere Stelle wenden. Das wird jedem Schauspieler gesagt! Außerdem wird je ein Sprecher für die Schauspieler und für die Tänzer innerhalb meines Ensembles gewählt, und es wurde auch darüber gesprochen, was bei einer freien Tanzimprovisation zwischen Tänzern und Schauspielern zulässig ist und was schiefgehen könnte.

Ist das schon eine Folge der #MeToo-Debatte?
Sie machen es dort schon seit zehn Jahren, aber seit der #MeToo-Debatte noch viel genauer. Und dieses Gespräch über Ethik-Regeln, bei dem sich dann ja jede Produktionsgruppe selbst ihre Grenzen definieren kann, sollte man unbedingt führen. Da können ja auch Schauspieler festlegen: Ich möchte nicht vom Regisseur angebrüllt werden. Oder sie sagen als Gruppe: Wenn er mal austickt und sich hinterher entschuldigt, ist es in einem gewissen Rahmen okay. Wäre auch denkbar. Diese Regeln, die sich eine Gruppe dann selbst gibt, das leuchtet mir sehr ein, das muss ein Regisseur auch aushalten können. Denn bisher setzt in Deutschland nur der Regisseur diese Regeln, und letztlich kann er sie setzen, wie er will. Das ginge dann nicht mehr. 

Und wie sähen die Sanktionen aus?
Na, wenn ich mich als Regisseur nicht daran halte, dann würde erstmal ein Gespräch mit mir geführt werden, und wenn das immer noch nicht hilft, dann würde ich irgendwann entfernt werden. Es ist auch klar formuliert in diesen Regeln: Das Kunstwerk hat Prioriät in der Arbeit, aber bestimmte menschliche Werte sind nicht darunter zu stellen. 

Das Gespräch führten Barbara Burckhardt und Franz Wille.

FALK RICHTER, der Regisseur des Jahres, geboren 1969 in Hamburg, langjähriger Hausregisseur u.a. am Schauspielhaus Zürich, der Berliner Schaubühne, dem Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Berliner Maxim Gorki Theater und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Autor zahlreicher Stücke, u.a. «Gott ist ein DJ» (1999), «Unter Eis» (2004), «Trust» (2009), «Small Town Boy» (2014)