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Rezensionen #3

«Hunger» in Salzburg, «Titans» in Berlin

Knut Hamsun «Hunger» in Salzburg

Am 17. und 20. August auf der Perner-Insel

Den «Jedermann» kann man nur auf dem Salzburger Domplatz erleben. Die übrigen Schauspielproduktionen der Salzburger Festspiele aber sind meist Koproduktionen mit Theaterinstitutionen, nach der Premierenspielserie in Salzburg übersiedeln sie ins Repertoire nach Wien, Berlin oder Bochum. Dass Frank Castorfs neue Inszenierung «Hunger» exklusiv bei den Festspielen zu sehen ist, liegt daran, dass das Theater, mit dem sie hätte koproduziert werden können, in dieser Form nicht mehr existiert. Seit Castorf nicht mehr Intendant der Volksbühne ist, inszeniert er zwar ununterbrochen an anderen Theatern, aber von seinem alten Ensemble sind dann höchstens ein paar Gäste dabei. Für die Salzburger Festspiele hat er jetzt eine Produktion zusammengestellt, die noch vor anderthalb Jahren genau so auch am Rosa-Luxemburg-Platz hätte laufen können. Auf der Perner-Insel in Hallein – einer traditionellen Außenstelle der Festspiele – sind ausschließlich Volksbühnen-erfahrene Schauspielerinnen und Schauspieler im Einsatz: Kathrin Angerer, Sophie Rois und Lilith Stangenberg; Marc Hosemann, Lars Rudolph und Josef Ostendorf; Daniel Zillmann und Rocco Mylord, der 17-jährige Sohn des Regisseurs.

Statt dramatischer Texte inszeniert Castorf lieber Romane. Diesmal bilden gleich zwei die Spielvorlage: «Hunger» (1890), das Debütwerk des norwegischen Autors Knut Hamsun, und der Nachfolger «Mysterien» (1892). Die meisterhaften, stark autobiografisch geprägten Romane sind literarische Zwillinge. «Hunger» handelt von einem bettelarmen Schriftsteller, der in Kristiania (dem heutigen Oslo) buchstäblich von der Hand in den Mund lebt; in «Mysterien» nistet sich ein lebensmüder Fremder in einer Kleinstadt an der Küste ein. Beide Romane erzählen von Außenseitern, die daran scheitern, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden; die Romanhelden unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, dass der eine Geld hat und der andere nicht.

Frank Castorf interessiert sich für solche Stoffe an der Schwelle zur Moderne, weil der neue Mensch, der damals gerade im Entstehen war, darin noch ganz pur zu erleben ist. Und weil man daran umso besser zeigen kann, was aus den modernen Menschen dann so geworden ist: Faschisten und Fast-Food-Konsumenten, zum Beispiel. Einer der Schauplätze von «Hunger» ist deshalb eine McDonald’s-Filiale (und zwar eine amerikanische, die Preise sind in Dollar angeschrieben). Die wieder mal tolle Konstruktion, die Castorfs Bühnenbildner Aleksandar Denic auf die Drehbühne gezimmert hat, sieht wie eine Mischung aus skandinavischem Holzhaus und Westernstadt aus und enthält neben dem Burger-Imbiss noch eine Pfandleihe, einen Geräteschuppen und eine Dachkammer; in der haust der arme Poet. An allen Ecken und Enden ist das Bühnenbild mit Nazi-Symbolen versehen: Auf den Carlsberg-Bierdosen prangen Hakenkreuze, die Ruder eines stilisierten Wikingerschiffs sind SS-Runen, und sogar die Hausnummer ist verdächtig: «88» ist unter Neonazis eine Chiffre für «Heil Hitler».

In der solcherart kontaminierten Bühne spiegelt sich die Biografie Hamsuns wieder, der in seinen späten Jahren glühender Hitler-Fan war. An einer Stelle der Aufführung wird zudem «Der Herr Karl» von Merz/Qualtinger zitiert, das bitterböse Porträt eines Wiener Mitläufers, der die Euphorie um den «Anschluss» Österreichs an Hitlerdeutschland mit einem «riesigen Heurigen» vergleicht. Ansonsten bleibt Castorf diesmal meist nahe am Text, so etwas wie eine durchgehende Handlung gönnt er dem Publikum aber auch hier nur in Ansätzen. Erstens werden die beiden Romane so nahtlos miteinander verknüpft, dass man die Handlungsstränge nicht voneinander unterscheiden kann; und zweitens gibt es fast keine durchgehenden Figuren: Jede/r spielt jede/n. Nur Marc Hosemann darf permanent in der Rolle des hungernden Künstlers aus dem ersten Roman bleiben; schon deshalb ist er so etwas wie der Protagonist des Abends. Hosemanns kraftvoll nervöse Performance ist das vitale Zentrum einer insgesamt eher skizzenhaften Aufführung.

Am besten sind die vollkommen verkorksten Liebesszenen, die Hamsun seine Männerfiguren erleiden lässt. Einmal etwa lädt eine junge Frau ihren Stalker aufs Zimmer, wo sie ihm zu verstehen gibt, dass er sie nun gefälligst verführen soll; der arme Mann ist mit der Situation allerdings heillos überfordert. Zu beobachten, wie Lilith Stangenberg und Marc Hosemann in dieser – per Live-Video gezeigten – Szene zwischen Lust und Frust hin und her taumeln, ist ein großes Vergnügen. Stangenberg spielt später auch die überraschend aufgetauchte Ex-Geliebte des in diesem Fall von Lars Rudolph dargestellten «Mysterien»-Helden. Sie macht ihm eine große Szene, aber Rudolph verteidigt sich nicht verbal, sondern packt eine Trompete aus und beteiligt sich ausschließlich musikalisch am Dialog; als er das Instrument dann auch noch am Boden entlangschleift, was wirklich hässliche Geräusche macht, ist sie mit ihren Nerven vollends am Ende.

Starke Momente wie diese entschädigen für manche Durststrecke an einem langen Abend, der insgesamt etwas unkonzentriert wirkt. Ein Blick ins Programmheft liefert Hinweise darauf, dass die Probenzeit sogar für Castorf-Verhältnisse knapp gewesen sein könnte. Erstens enthält es das Transkript eines Hamsun-Referats, das der Regisseur im Rahmen eines «Konzeptionsgesprächs» am 3. Juli gehalten hat – also bloß vier Wochen vor der Premiere. Zweitens ist die Spieldauer des Abends im Programmheft mit «ca. 4 ½ Stunden» angegeben; tatsächlich dauert er eine Stunde länger. Anscheinend war nicht mehr genug Zeit, um die Aufführung einzukürzen.

Wenn die Besucher der Perner-Insel in den Shuttle-Bus steigen, der sie zurück nach Salzburg bringt, ist Mitternacht schon vorbei. Man könnte das als Castorfs letzte Pointe interpretieren: Wer jetzt Hunger hat, wird kein offenes Restaurant mehr finden. Etliche Besucher haben es ohnedies vorgezogen, in der Pause zu gehen. Für das klassische Salzburger Festspielpublikum ist der Abend einfach zu lang und zu seltsam. Aber auch Castorf-affine Theatergeher verlassen die Szene mit dem Gefühl, dass es der Meister diesmal ein bisschen zu locker angegangen ist. Man sah: die Ex-Volksbühne auf Sommerfrische.

Wolfgang Kralicek   http://der-theaterverlag.de/

Euripides Laskaridis «Titans» in Berlin

Vom 23. bis 25. August im HAU

Irrwitzige absurde Komik, Pathos und cleveres Spiel mit der Gender-Thematik – all das, und nicht zuletzt der unwiderstehliche Performer Euripides Laskaridis, macht «Titans» zu einer herrlich burlesken Farce, in der das Zusammenspiel von Licht, Kostüm und Bühne den experimentellen Rahmen für die Verwandlungskünste des griechischen Allroundkünstlers abgibt. Sein Arsenal: Perücken, Rampen, Flaschenzüge, Mikrofone, Styropor, Trockeneis und andere Gerätschaften.

Eine Stunde dauert diese anarchische Performance, die Ende Mai beim «Festival Trans-Amériques» in Montreal gezeigt wurde und Laskaridis Gelegenheit zur spitznasig-koboldhaften Verkörperung einer schwangeren Frau im hautengen pinken Ganzkörper-Trikot gibt. An seiner Seite operiert die Figur eines in Schwarz gewandeten, zwielichtigen Technikers (Dimitris Matsoukas), der – zur erstklassigen Live-Musik von Kostiv Pavlopoulos – im Dämmerlicht die Fäden zieht, Requisiten umherschiebt, die Szene manipuliert. Laskaridis’ Stimme, elektronisch verfremdet, spricht in einer Fantasiesprache, und so stimuliert «Titans» das Alpha, Beta, Theta und Delta unserer Konzentrationsfähigkeit, fordert Verstand und Logik heraus, ebenso wie alle Sinne; Traumartiges weckt Emotionen und Kreativität, beschwört innere und äußere Bewusstseinszustände gleichermaßen.

Das alles ist nicht eigentlich Tanz. Und doch steht in dieser wilden Abfolge von Szenen und Sketchen der Körper im Zentrum – und auf dem Spiel. Und spielt zugleich mit unseren Empfindungen. Man hat Travestie schon reichlich auf der Bühne gesehen, wann aber hat ein männlicher Darsteller zuletzt eine Schwangere verkörpert? Was indessen die im Programmheft erwähnten Bezüge zur griechischen Mythologie angeht – die Titanen sind die Kinder der Gaia (der Urmutter und Personifizierung der Erde) und des Uranos (der göttlichen Verkörperung des Himmels) –, so bleiben sie weitgehend im Dunkel. Dafür verzaubert Laskarides mit seinem unbändigen Humor. «Das hat total Spaß gemacht!», ließen nach der Vorstellung zwei begeisterte Kinder ihre Mutter wissen; sie hatten sich schon während des Stücks köstlich amüsiert. Laskaridis hat mit «Titans» ein ungemein publikumswirksames Stück kreiert. An den technischen und thematischen Klippen, von denen er auf der Bühne so gerne springt, hat er merklich geschliffen. Doch wie immer weiß niemand im Voraus, in welch verrückte Abgründe er sein Publikum mitreißt.

Philip Szporer
Aus dem Englischen von Marc Staudacher