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Selbstreflexionen

Die 750. Ausgabe von Theater heute

Die Qualität von «Theater heute» ist die Qualität ihrer aktuellen Kritiker:innen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Und da niemand sie so gut kennt wie sie sich selbst, stellen sie sich hier vor:

Kritiker Jürgen Berger, Foto: Fernando Gutierrez

Sondervermögen

Was tun, wenn man nichts kann außer lesen und schreiben? Deutschlehrer wäre eine Möglichkeit gewesen, hätte sich nicht schon früh im Germanistikstudium die Erkenntnis eingestellt, dass ich nie so gut sein würde wie der, den ich in der gymnasialen Ober -stufe genießen durfte. Was folgte, erscheint aus heutiger Sicht folgerichtig: Schon während des Hauptstudiums erste Theaterkritiken für die Heidelberger Wochenzeitung «Communale», angeregt durch Theaterkünstler:innen wie Johann Kresnik, Jossi Wieler, Anna Viebrock und Herbert Fritsch am Heidelberger Theater. Die Jahre als Hochschul- und Feuilleton-Redakteur der «Communale» waren ein prima Fitnessraum für jenen Muskel der heiteren Selbstausbeutung, den du auf jeden Fall trainiert haben solltest, falls irgendwann das Telefon klingelt und eine Stimme die Frage stellt: «Wie wäre es mit einer Kritik zu Castorfs ‹Ajas›- und Wielers ‹Ivanov›-Inszenierung in Basel?» Das war einige Tage vor dem Mauerfall und in der zweiten Spielzeit von Frank Baumbauers Intendanz. Auftraggeber war die Berliner «taz». Die nächsten Anrufe kamen aus der Redaktion von «Theater heute» und der «Süddeutschen Zeitung», während ich gleichzeitig für Tageszeitungen wie die «Rheinpfalz» und «Schwäbische» unterwegs war. Nicht nur die Seherfahrungen wurden vielfältiger, sondern auch der Reiseradius und die Aufgabenstellungen: Jury des Berliner Theatertreffens, Auswahlgremium der Mülheimer Theater -tage, Jury des Else Lasker-Schülerund Osnabrücker Dramatikerpreises, Kurator des iberoamerikanischen Theaterfestivals Adelante in Heidelberg, Lehraufträge an der Mannheimer Universität und Baden-Württembergischen Theaterakademie, Workshops in Südamerika und Asien. 

Die Haare dagegen wurden im selben Zeitraum spärlicher und waren irgendwann genauso selten wie das Geld in den Reiseetats der Feuilletons. Mal sehen, vielleicht kommt der Tag, an dem ich mein für die Haarpflege eingespartes Geld einem noch zu gründenden Sondervermögen zum Wiederaufbau der Theaterkritik zuführe. Jürgen Berger

Silvia Stammen, Foto: privat

Ganz schön viel!

Angefangen hat es bei mir, wie das so passiert, mit der ersten Liebe: hineingestolpert, Feuer gefangen und nie wieder los -gekommen. Zuerst, noch während der Schulzeit, waren es die Münchner Kammerspiele und Workshops im Offoff bei Kelle Riedl. Theater, das kam mir vor wie ein unerschöpflicher Zauberkasten, in dem sich alles Wichtige und noch so viel mehr verhandeln lässt. Aber auch: ein Raum, in dem alles zählt! 

Um mehr zu erfahren, studierte ich Theaterwissenschaft und hospitierte in den Semesterferien, zuletzt bei George Tabori am Residenztheater, ein Augenöffner für schmerzhaft genauen Witz und auch für komplizierte gruppendynamische Prozesse bei den Proben. Wenn nicht mehr notwendig drin-, so wollte ich doch unbedingt dranbleiben. Kritiken schreiben war die Möglichkeit, mich weiter einzulassen und auseinanderzusetzen, erstmal für das Münchner Theatermagazin «Applaus», bei dem ich gleich das Ressort «Freie Szene» übernehmen durfte, dann für die «Deutsche Bühne», «Süddeutsche Zeitung» und schließlich «Theater heute» – Luxus für mich, viel Platz und auch Zeit (die brauche ich immer bis zum letzten Moment und darüber hinaus)! Beworben hatte ich mich dort 1994 mit einem Bericht über das Freie Theater München FTM, da war ich längst mehr in Hallen und alternativen Spielorten eines künstlerisch autonomen Theaters des Außen unterwegs als in den großen Häusern. Aber auch im Marstall des Residenztheaters, wo Elisabeth Schweeger mit ihrem interdisziplinären Programm zeigte, wie beides offensiv miteinander reagieren kann. 

Mein Anspruch an Kritik (und an mich selbst): offen bleiben für ein Theater, das seinen eigenen Raum aufmacht, respektvoll gegenüber den Schaffenden, skeptisch gegenüber dem Meinenden, das sich mit Kunst bemäntelt, weniger Urteile fällen, als Argumente aufstellen – wenn’s gelingt, ist das schon ganz schön viel! Silvia Stammen


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