In Ihren Bühnenwerken fällt die extreme Expressivität ins Gewicht, gleichsam ein ekstatischer Moment – im Gegensatz zu dem eher systematischen Komponieren von Helmut Lachenmann und Karlheinz Stockhausen, wo das Fehlen von Ekstase nachgerade stilbildend ist …
Dankeschön! Meine Intentionen sind getroffen. Ich bin kein junger Komponist mehr, aber ich stelle mir nach wie vor die Frage, die ich mir schon als junger Komponist gestellt habe: «Wessen Erbe trete ich an?» Und das ist das gleiche Problem, das junge Komponisten heute zu lösen haben: Was können sie tun, um ein bestimmtes Erbe anzutreten? Wie können Sie gleichzeitig den alten Meistern «standhalten», etwas Eigenes finden, eine eigene Überzeugung, und dennoch mit diesem Gepäck auf dem Rücken etwas fortsetzen, was die Meister ihnen erlauben – einen Traum, eine Ideologie oder sonst irgendetwas? Kurzum: Wie können Sie ihr eigenes Universum kreieren? Für mich war diesbezüglich ein Ereignis vor 20 Jahren von enormer Bedeutung. Ich war mit Helmut Lachenmann in Luzern, im Konzert wurden mein zweites Streichquartett und ein Stück von ihm gespielt. Hinterher gab es eine Debatte mit uns beiden. Ich war jung – und Lachenmann der Star. Der erste Teil des Gesprächs war ihm gewidmet, 300 Menschen saßen da, aufgeregt und von ihm in den Bann gezogen. Er begann seine Rede mit dem Satz: «Ich denke, Pascal Dusapin ist ein echter Musiker.» Und danach sprach er eine Dreiviertelstunde nur noch von sich, von seinen eigenen Kompositionen, von der Kunst der Dekonstruktion und wie brillant er sei. Als er endete, sagte ich nur einen Satz: «Sie sind ein Bourgeois!»
Wow! Ganz schön mutig …
Aber es war meine Überzeugung. Er war ein Bewohner des «Luxusappartements» der Neuen Musik, ich hingegen bin in den Suburbs geboren, sehr weit von diesem Luxuszentrum entfernt. Sie müssen wissen, dass ich als junger Mann weder glücklich noch besonders talentiert war. Musik zu komponieren, war für mich wie ein Krieg. Inzwischen bin ich angekommen, aber nicht im Zentrum. Was gleichwohl ein Vorteil ist. Denn ich muss nicht ein ganzes Erbe zerstören – ich habe keins. Auch deswegen war es wohltuend und wichtig für mich, meinen Weg, um etwas auszudrücken, allein zu gehen. Wie auch die Musik etwas ist, das ich nicht hinter mir lassen will, sondern etwas, das ich erreichen will. Das ist der feine Unterschied. Dennoch: Als ich jung war, war ich einsam, ich war krank. Es war eine Katastrophe.
Sie sagen, Sie waren nie ein Bourgeois. Sind Sie jetzt einer?
(lacht) Vielleicht. Aber ich bin noch nicht im Zentrum angelangt. Aber es ist wie gesagt nur eine Metapher. Gleichwohl war Helmut ein bisschen schockiert, weil es ein politisches Statement war. Hinterher saßen wir zusammen in einer Bar und sprachen über Melodien, und er sagte: «Eigentlich liebe auch ich Melodien – aber …» Durch meinen Kopf geistert eine Melodie schon vor dem ersten Kaffee; für ihn war es schon ein Kampf, sich Melodien überhaupt nur auszudenken.
Das gesamte Interview von Jürgen Otten lesen Sie in Opernwelt 5/23