Askese gehört zu seiner Kultur, die Überflussgesellschaft des Westens ist ihm fremd geblieben. Obwohl berühmt, verkehrt der bald 70-Jährige auch nicht in der globalen VIP-Lounge des Tanzes. Zeit ist schließlich das kostbarste Gut – und stets zu knapp: «Ich will, ich muss immerzu Neues erschaffen. In jeder Aufführung, jeder Sekunde tue ich nichts anderes, als Bewegung zu reorganisieren. Licht und Raum setzen zwar den Rahmen. Dennoch ist alles im Fluss – und so muss es sein.» Diese Philosophie der Verflüssigung hat Teshigawara auch den 16 Biennale College Dancers eingeimpft, die er einen Monat lang gecoacht hat. Mit Junioren um die 20, 25 zu arbeiten, empfindet er als inspirierende Osmose. Das Ergebnis lässt sich jedenfalls sehen. Zum Biennale-Showing erweist sich «Swing» als hinreißend getanzte Jugend-Etüde und Paradebeispiel für die energetischen Prinzipien des Meisters: «Schwerkraft, Boden, Haltung, Körperbewusstsein, Atmung – das sind die Elemente des Lebens und der Bewegung. Also auch des Tanzes.» Nichts Metaphysisches, keine Spiritualität? Teshigawaras Blick wandert zu seiner Lebens- und Kunstgefährtin Rihoko Sato. Sie lacht und erzählt von kreativen Krisen und ausführlichen Selbstgesprächen, in denen er sich mit multiplen Ichs austauscht: «So kommt er zu neuen Einfällen.»
Das erklärt, warum Saburo Teshigawaras Choreografien bisweilen ein inneres Konfliktgeschehen abzubilden scheinen. Sie kreisen um Disharmonien, um widerstreitende Werte und Wahrnehmungen. Ein Thema im Großen wie im Kleinen, meint er: «Ich will nicht politisieren, aber wie wir Unterschiede aushalten und wertschätzen, ist jenseits ökologischer Probleme doch das größte Fragezeichen der Gegenwart.» Das Lob der Differenz ist Teshigawaras Cantus firmus – seine Empfehlung in Sachen Persönlichkeitsbildung: «Sei du selbst, sei unabhängig, offen, ernsthaft in dem, was du tust – und frage dich immer, was hinter dem Spiegel ist.»
Die Welt hinter dem Spiegel ist seit vielen Jahren sein künstlerisches Leitmotiv. Zuhause in Tokio unterhält er ein Studio, in dem er unterrichtet und Rohfassungen seiner Stücke entwirft. Anders als in den meisten Trainingssälen weltweit ist der Blick in den Spiegel nur ein Notbehelf. Weil es Teshigawara um innere Instanzen, um Fantasien geht, die er aus der Tiefe des Unterbewussten holt und zum Ausdruck bringt: Größenwahn oder Ohnmacht, Ekstase oder Erstarrung. Nicht umsonst hat sein Forschergeist vielfach mit Materialien und Settings experimentiert, die das Körperinstrument gefährden. Er ist über Glasscherben balanciert, gegen Metallwände gelaufen, hat seine Exerzitien an kunstfremde Orte verlegt, in Kraftwerke, auf Viehmärkte. Dabei dienen äußere Trigger dem einzigen Zweck, den der Choreograf seiner eigenen wie jeder anderen Kunst zuerkennt: einen Akt der «Transformation», der «Befreiung» einzuleiten. Befreiung wovon? Teshigwara zögert: «Ich fühle mich oft gefangen. In erstickend abstrakten Idealen, ästhetischen Maßstäben. Dabei ist Schönheit immer schon da – ich tue nichts anderes, als sie sichtbar zu machen.» Er stellt selbst die nächste, die übernächste Überlegung an: «Was ist überhaupt das ‹Schöne›? Ich meine, es liegt irgendwo zwischen Macht und Ohnmacht.» Bevor sein Sinnieren ins Nebelhafte abdriftet, greift Rihoko Sato ein. «Vielleicht reden wir über Zukunftspläne?» Einverständnis von seiner Seite. Sie harmonieren perfekt. Schwarz und Weiß, Yin und Yang.
Den gesamten Beitrag von Dorion Weickmann lesen Sie in tanz 5/23
(Portrait: Akihito Abe)