Ein Alleskönner
Der Tänzer Jason Reilly
Auf den ersten Blick hat Reilly tatsächlich nicht unbedingt was von einem Tänzer, die Arme, den eher muskulösen Körper mit Tattoos bedeckt. «Jungs, die so aussehen wie ich, sind entweder Stripper, oder sie machen was mit Sport», meint er schmunzelnd. «Ob ich ein typischer Danseur noble bin?», fragt er selbst. So einer wie z. B. Friedemann Vogel, den er nach eigenen Worten für einen «Gott» hält und der fast einen Kopf größer ist? «Nein, mein Körper ist einfach anders, und gerade das macht ihn für das Publikum reizvoll.» Natürlich hat auch er an ihm was auszusetzen. Der Oberkörper könnte länger sein, die Füße besser. «Ursprünglich war ich 1,83 Meter groß. Inzwischen bin ich ein paar Zentimeter kleiner. Die Hebungen, all die Sprünge, die ich seit Jahren mache, hat mein Körper nicht vergessen.»
Doch Jason Reilly hält dagegen – mit dem täglichen Fitnessprogramm, mit Schwimmen, mit Laufen, dem Training. «Ich bin jetzt 43, unwesentlich jünger als Friedemann, und fühle mich in Form. Der Körper macht nach wie vor alles mit. Ich springe so hoch wie die anderen, strecke, sofern verlangt, meine Beine und habe dabei keinerlei Schmerzen.» Und das, obwohl er mehrfach verletzt war, drei OPs hinter sich hat und mehrere Metallplatten in der Schulter und im Knie, ja, selbst in den Händen. Ob der Iron Man damit nicht manchmal Probleme habe? «Natürlich. Manchmal macht sich das Metall bei kaltem Wasser bemerkbar. Auch sind meine Finger ab und zu steif.» Sagt’s und knetet sie.
In der Serie «Superheroes», einer Werbekampagne des Stuttgarter Balletts vor ein paar Jahren, stand Jason Reilly für den «Captain Fantastic»: eine Rolle, die er sich selbst aus seiner Vielseitigkeit heraus erklärt. Denn Reilly tanzte in jedem Ballett, mit jeder Partnerin, bei jedem Gastspiel. Kurz: ein wahrer Alleskönner, von dem die Intendanz selber sagt, dass kein anderer Erster Solist der letzten 25 Jahre ein so breites Repertoire tanzt(e) wie er.
Das ist keineswegs übertrieben: Friedemann Vogel kann man sich beim besten Willen nicht als Jack the Ripper vorstellen; Reilly indes verkörperte ihn in Christian Spucks Monstretragödie «Lulu» mit Angst einflößender Aussagekraft. Oder Othello? Reilly war eine Idealbesetzung im gleichnamigen Ballett John Neumeiers, und das gewiss nicht seiner Hautfarbe wegen, sondern aufgrund seiner Identifikationsbereitschaft. Nicht zu vergessen sein Stanley Kowalski in «Endstation Sehnsucht»: eine Herausforderung, wie er sie schätzt, selbst wenn er die Handlungsweise der Figur im Innersten verabscheut.
Den gesamten Beitrag von Hartmut Regitz lesen Sie in Tanz 5/23